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  • Chinas Verhältnis zur Welt

»Die westliche Dominanz ist eine Anomalie«

Der Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani sieht ein asiatisches Jahrhundert kommen, angeführt von China

  • Lesedauer: 8 Min.

Die Coronavirus-Pandemie hat bislang kein anderes Land stärker getroffen als die Vereinigten Staaten, Chinas Erzrivalen. Halten Sie die Volksrepublik für den Krisengewinner?
Ich wäre zum jetzigen Stand sehr vorsichtig, denn der Kampf gegen Covid-19 ist noch lange nicht vorbei. Bislang scheint es so, dass China den Virusausbruch wesentlich besser gehandhabt hat. Aber wenn morgen eine US-Universität mit einem Wunderimpfmittel um die Ecke kommen sollte, würde die ganze Welt den USA applaudieren. Lassen Sie uns erst mal abwarten.

Dennoch sprechen Sie vom Paradigmenwechsel weg von der westlichen Dominanz hin zum asiatischen Jahrhundert. Hat die Pandemie diesen Prozess beschleunigt?
Die Beschleunigung fand doch bereits vor Covid-19 statt. Sehen Sie: Bis zum Jahr 1820 waren die größten Volkswirtschaften der Welt stets China und Indien. Nur in den letzten 200 Jahren haben Europa und die Vereinigten Staaten ihren Siegeszug angetreten. Verglichen mit den 2000 Jahren zuvor ist die westliche Dominanz also eine Anomalie. Natürlich wird diese irgendwann ihr Ende finden.

Kishore Mahbubani
Kishore Mahbubani ist einer der renommiertesten Politikwissenschaftler Asiens und diente als Singapurs Botschafter bei den Vereinten Nationen. Derzeit lehrt er an der National University of Singapore. Sein aktuelles Buch hat den Titel »Has China won?« – Hat China gewonnen? Über den Aufstieg der Volksrepublik sprach mit ihm Fabian Kretschmer.

Dennoch: Wenn man sich die Virustoten pro Million Einwohner anschaut, dann liegt diese bei den USA und einigen europäischen Staaten im mittleren dreistelligen Bereich. In den asiatischen Ländern liegt der Wert bei unter zehn. Es zeigt sich ein Muster der Kompetenz bei der Handhabung der Krise in Ostasien - zumindest bislang.

Viele europäische Länder haben in den letzten Wochen tatsächlich versucht, vom Beispiel Südkorea und Taiwan zu lernen. China hingegen gilt in Teilen auch als abschreckendes Beispiel: In den ersten Wochen nach Virusausbruch hat die Regierung Virusproben zerstört und Wissenschaftler mundtot gemacht.
Der große Fehler, den der Westen meiner Meinung nach begeht, ist es, Gesellschaften in schwarz und weiß zu kategorisieren, wobei die Realität in allen möglichen Grautönen verläuft. Natürlich hat China Fehler gemacht - etwa, Wissenschaftler wie den Whistleblower Li Wenliang zum Schweigen zu bringen.

Aber meine Freunde, die selber Ärzte und Wissenschaftler sind, sagen mir: Wenn ein neues Virus mit zunächst scheinbar harmlosen Erkältungssymptomen auftritt, wie soll man sich dann sicher sein, dass dieser Erreger letztlich Hunderttausende Menschen töten wird? Es gab in der Anfangszeit eine große Verwirrung. Als China jedoch erkannt hat, dass sich ein schwerwiegendes Problem auftut, war die Reaktion absolut einmalig: Sie haben eine ganze Provinz mit 60 Millionen Menschen zwei Tage vor Chinesisch Neujahr abgeschottet. Die USA hätten so etwas zwei Tage vor dem Erntedankfest sicher nicht geschafft.

Die chinesische Regierung propagiert jedoch ihrerseits eine Schwarz-Weiß-Propaganda: Sie streitet nach außen de facto jegliche Fehler ab und inszeniert sich mit seinen Maskenlieferungen als Retterin der Welt.
Chinesen sollte man am besten nicht innerhalb einer öffentlichen Debatte konfrontieren. Meine Erfahrung mit chinesischen Diplomaten und Regierungsvertretern ist, dass sie im Privaten sehr informiert und nachdenklich sind. Ich habe keine Zweifel daran, dass sie im persönlichen Gespräch auch Fehler eingestehen werden. Es ist eben ein anderes System. Wir müssen mit einem China leben, welches existiert - und nicht ein China, von dem wir uns wünschen, dass es existieren würde.

Also auch ein China, das künftig eine selbstbewusstere Haltung einnimmt. Sind die Machtdemonstrationen im Konflikt um das Südchinesische Meer oder der Protestbewegung in Hongkong ein erster Vorgeschmack auf die neue Weltordnung?
Ich finde, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen China und den USA gibt: Amerika glaubt, dass es die beste Gesellschaft der Welt ist und dass es jedem anderen Land besser ginge, wenn es die USA kopieren würde. Aus den letzten Jahren sollten wir jedoch gelernt haben, wie schwer es ist, eine Gesellschaft zu transformieren. Als die USA die Demokratie in den Irak exportieren wollte, endete das in einem Desaster. China hat einen anderen Standpunkt, der vereinfach gesagt lautet: Nur wir Chinesen können Chinesen sein. Ihr sucht euer System aus, das gut für euch ist, und wir tun das für uns. Wenn man jedoch China kritisiert, und ganz besonders jetzt, dann reagieren sie sehr sensibel. Wissen Sie: Es gibt in der Realpolitik keinen gütigen Hegemon. Jeder mächtige Staat verfolgt seine Interessen an erster Stelle. Jetzt, da China stärker wird, wird es natürlich auch durchsetzungsfähiger. Das ist schlicht die Realität.

Welche Rolle sollte Europa in Bezug auf China einnehmen? Die Krise hat vor allem gezeigt, wie uneinig die EU-Mitgliedsstaaten in Bezug auf das Reich der Mitte sind.
Europa hat derzeit eine große Chance, sich als geopolitischer Player für die Welt von morgen zu positionieren: Denn während der Konflikt zwischen China und den USA eskaliert, braucht die internationale Gemeinschaft eine Gegenkraft, die stark genug ist, zwischen beiden Weltmächten zu vermitteln. Es wäre derzeit eigentlich nur logisch, dass man gemeinsam gegen das Virus kämpft. Stattdessen haben sich die Vereinigten Staaten - leider und entgegen ihrem eigenen Interesse - entschieden, das Virus als politische Waffe gegen China zu missbrauchen.

Europa hat die Kraft für jene multilaterale Führungsrolle, die zum Beispiel Frankreichs Präsident Emmanuel Macron repräsentiert. Gleichzeitig ist Europa jedoch sehr ehrerbietig gegenüber den USA geworden. Zu Zeiten des Kalten Krieges, als die Hauptbedrohung von der Sowjetunion ausging, hat das noch Sinn gemacht. In der heutigen Welt jedoch sind die geopolitischen Interessen jedoch nicht mehr dieselben.

Sondern?
Die größte Herausforderung für Europa kommt von der Bevölkerungsexplosion in Afrika! Im europäischen Interesse ist es, die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas zu fördern. Schließlich geht der steigende Populismus und Rechtsextremismus auf die Migration zurück. Der größte Investor in Afrika ist heute China. Wenn China Afrika entwickelt, ist das ein geopolitisches Geschenk an Europa.

Das sind bemerkenswerte Aussagen für den Sohn eines Migranten aus Indien.
Migration ist in Ordnung, kontrollierte Migration ist gut. Die Frage ist nur, wie viel eine Gesellschaft absorbieren kann.

Kommen wir zurück auf die Beziehungen zwischen China und den USA. Viele Drohungen Trumps sind wohl der anstehenden Präsidentschaftswahl geschuldet. Wird der Konflikt danach weiter eskalieren?
Leider denke ich, dass die Beziehungen in den nächsten Jahren weiter schlechter werden. Das hängt mit tiefen, strukturellen Ursachen zusammen - ganz egal, ob Trump oder Joe Biden die Wahl gewinnt, auch wenn letzterer sicher respektvoller gegenüber China auftreten würde. Seit 2000 Jahren gibt es nämlich die eiserne Regel: Wenn eine aufstrebende Macht dabei ist, die bisherige Nummer eins zu überholen, dann steigen die Spannungen - seit Sparta und Athen gibt es das. Zudem gibt es in der westlichen Psyche seit Jahrhundert die »Angst vor der gelben Gefahr«. Es ist politisch nicht korrekt, darüber zu reden, aber ich glaube, dass viele Entscheidung der US-Regierung von dieser unbewussten Angst getrieben werden.

Rückblickend war es ein Trugschluss der USA zu denken: Wenn China seine Wirtschaft reformiert wie Ende der 1970er Jahre, wird es sich auch früher oder später politisch öffnen.
Das klingt sehr naiv für mich. Wieso sollte ein Land wie die USA mit nicht mal 250 Jahren Geschichte und dem Viertel der Bevölkerung denken, dass es China ändern kann - und nicht umgekehrt. Da kommt eine gewisse Arroganz durch.

Man könnte manchmal meinen, Sie sind der Demokratie gegenüber nicht besonders freundlich eingestellt.
Ich glaube nach wie vor, dass jede Gesellschaft irgendwann demokratisch wird. Die Geschwindigkeit und auch die Art und Weise ist jedoch in jedem Fall unterschiedlich. Der beste Weg für China zu einer Demokratie ist ein innerer Weg. Je weniger die Welt von außen Druck macht, desto besser für China.

Das bedeute im Umkehrschluss, dass die internationale Staatengemeinschaft stillschweigend zuschauen soll, wenn Chinas Regierung Menschenrechtsverletzungen wie etwa gegen die muslimische Minderheit in Xinjiang begeht?
Natürlich sollte man Menschenrechte fördern. Nichtregierungsorganisationen und internationale Institutionen sollten Vergehen kritisieren. Wenn Staaten das jedoch tun, dann hegen sie immer eine Doppelmoral. Ein Beispiel: Die EU ist gegen Folter und kritisiert jedes Land für seine Foltervergehen bis auf eines - die Vereinigten Staaten. Siehe Guantanamo!

Wer soll denn Ihrer Meinung nach entscheiden, wann ein Land reif für die Demokratie ist? Taiwan ist seine autokratische Führung losgeworden, auch Südkorea ist mittlerweile eine lebhafte Demokratie.
Welches Land war denn der größte Unterstützer des einstigen südkoreanischen Diktators? Die USA! Natürlich hat sich Südkorea gewandelt - vom Innern heraus. Und wieso? Weil der damalige Diktator Park Chung-hee für Bildung seiner Bevölkerung und Wohlstand gesorgt hat. Wenn es eine große Mittelschicht gibt, dann wird diese auch für Änderungen sorgen.

Jetzt klingen Sie aber naiv, wenn Sie dieses Szenario auch für China prognostizieren. Die Bevölkerung genießt einen Wirtschaftsaufschwung und exzellente Bildung, Freiheiten wie Meinungsäußerungen gingen unter Präsident Xi Jinping gleichzeitig deutlich zurück.
Ich habe 1980 das erste Mal China besucht. In Peking gab es damals keine Hochhäuser, ja nicht mal wirklich Autos. Die Leute konnten nicht ihre Kleidung wählen, geschweige denn ihren Wohnort oder ihr Studium. Und kein Chinese konnte ins Ausland reisen. Nun schauen Sie sich das jetzige China an: Jedes Jahr gehen etwa 300 000 chinesische Studenten an amerikanische Universitäten. Aus der Perspektive des chinesischen Volks haben die letzten 40 Jahre eine größere Verbesserung der Lebensqualität gebracht als die letzten 4000 Jahre.

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