Überzeugen, ohne einzuschüchtern

Die Linke sollte in der Corona-Debatte die Verfassung, die Alten und die Wissenschaft verteidigen – und zwar jetzt

  • Kerstin Kassner, Zaklin Nastic, Diether Dehm, Andrej Hunko
  • Lesedauer: 7 Min.

So wie Kriege bekanntlich mit mindestens einer Lüge beginnen, wirbeln Krisen Pogromstimmungen hoch. Das kollektive Unterbewusstsein – und noch mehr das individuelle – ist oft zu feige, um Ängste gegen überstarke Mächte zu wenden. Leichter entlädt sich Zorn an Sündenböcken. Das ist nicht bereits Faschismus, aber dessen Nährboden. Mit der Pandemie gilt es also nicht nur ein Virus in Schach zu halten, sondern auch die Jagdlust auf solche, die es bei Obrigkeit und Mainstream verschissen haben.

Das Grundgesetz möchte nicht nur die Würde von jugendlichen Helden schützen, die ohne Vorerkrankung und Risiko dem Kapital ihre unbeschädigte Arbeitskraft feilbieten. Wer Über-60jährige durch Social Distancing von Jüngeren fernhalten will, sollte bei Schlachthöfen, Werkhallen, Fließbändern und Großraumbüros damit anfangen - und das Renteneintrittsalter senken, statt es, wie Blackrocker Friedrich Merz, auf 70 hochzuschrauben zu wollen. Sonst könnten Alte das »Cocooning« leicht als »Schutzhaft« missverstehen.

Die Autoren
Kerstin Kassner, Zaklin Nastic, Diether Dehm und Andrej Hunko sind Bundestagsabgeordnete der Linken. Hunko hatte kürzlich auf einer von einem Mitte-links-Spektrum organisierten Corona-Demo in Aachen gesprochen, was zu einer Kontroverse in seiner Fraktion führte; die Teilnahme von Linke-Politikern an sogenannten Hygiene-Demos wurde scharf kritisiert. In seiner Rede hatte Hunko unter anderem den Unterschied zwischen legitimer Kritik an Corona-bedingten Einschränkungen einerseits sowie Verschwörungsanhängern und Rechtsextremisten andererseits thematisiert.

 

Der Schoß, aus dem die aktienspekulierte Riester-Rente kroch, ist fruchtbar noch: Altersdiskriminierung. Zum Beispiel mittels jener ruftötenden Kampagne gegen den linken CDU-Sozialminister Norbert Blüm, seit dieser 1986 die gesetzlich solidarische Rente als einzig »sicher« verteidigt hatte. Drauf wurde den Jungen jahrelang zugerufen, die Alten seien eine Art demografisch-unnütze Mitesser, Parasiten für arbeitende Renteneinzahler. Befeuert wurde dies von den späteren Profiteuren: Allianz, Maschmeyer und »Bild«. Und solche Hetze klingt nach, wenn jetzt die »Risiko-Alten« als Verursacher dieses Lockdowns hingestellt werden.

Vorerkrankungen sind dabei ebensowenig Privatsache wie Unwürde beim Älterwerden. Lädierte Immunsysteme taugen weniger zur individuellen Diskriminierung als zur Kritik an der Gesellschaft. Dies gilt nicht nur für Zeiten und Länder mit Kinderarbeit, sondern auch für unsere Metropolen mit den Phänomenen Burnout, Overstressing, organische Belastungen durch Umwelt und miserable Ergonomik.

Einem Krankenpfleger, der bis zum 67. Lebensjahr täglich Hunderte Kilogramm Besteck in Reinigungsautomaten wuchtet, »Risikogruppe« zuzurufen, anstatt ihm ab dem 60. Lebensjahr den Eintritt in die Rente zu ermöglichen, ist ein zynischer Gebrauch von Corona. Eine Linke, die Beschädigte nicht organisieren hilft, wird auch von den professionellen Beschädigern nicht ernst genommen.

Also gilt es, in den aktuellen Krisen das Diskriminierungsverbot (Grundgesetz Artikel 3.3) noch höher zu halten. Aber auch Artikel 5, der Freiheit für Meinung und Wissenschaft schützt. Und das gilt auch für Forscher, wenn sie in Ungnade gefallen und als Ketzer gebrandmarkt werden. Rosa Luxemburgs Freiheit für den Andersdenkenden meint auch die, die uns überhaupt nicht nach dem Mund reden. Und die sich irren. Selbst dann, wenn sie es nicht zugeben.

Politiker sind die Entscheider. Während Wissenschaft nur Optionen nahelegt. Und sich Forschung im Widerspruch weiterentfaltet. Das ist die verfassungsgewollte Kontroverse. In Meinungsfreiheit!

Ausgenommen davon ist wenig. Rassismus etwa (weshalb wir am NPD-Verbot auch festhalten). Leider sind Antikommunismus und Gewerkschaftsfeindlichkeit nicht verboten, obwohl diese dem Faschismus am wesentlichsten sind. Aber der modische Taschenspielertrick von »Spiegel« & Co., alles, was ihnen nicht in den Kram passt, kurzerhand für faschistisch zu erklären, verniedlicht Himmler und die IG-Farben. Vielfalt hat Erkenntnis in einem demokratischen Rechtsstaat - von linkeren bis rechteren Ansichten - idealerweise im uneingeschüchterten Disput durchzustreiten, ohne einander Tod und Verbot zu wünschen.

Virolog*innen und andere Spezialforscher müssen oft genug ein Elementarteilchen, wie das Virus, aus dessen lebendigem Gesamtorganismus - zu dem auch seine Umgebung gehört - isolieren, um es (zum Beispiel im Elektronenmikroskop) zu spezifizieren. Zusammenhänge gehen so im Versuch verloren, Fehlerquellen sind programmiert. Und Unschärfen - wie sie Heisenberg schon beim Atom in der Magnetfalle konstatiert.

Deshalb verlangte Einstein nach mehr Philosophie. Aber auch seine prominenten Widersacher von der Quantenphysik. Denn Experten stellen Fachforschung einer größeren Übersicht nur zur Verfügung. Ob dann aus Einsteins Forschung eine Atombombe wird oder ein medizinisches Heilinstrument, entscheiden Politik und Philosophie. Und damit: wir auf der Straße, in den Betrieben und Parlamenten. Auch dafür, also aus Eigeninteresse, braucht das Proletariat bürgerliche Freiheit.

Von den Sozialistengesetzen 1878 über den »Radikalenerlass« bis zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit für Attac und VVN-BdA: Verlust bürgerlich-demokratischer Streit- und Schutzkultur hat immer zuallererst das organisierte Proletariat und seine Partner getroffen. Eine Linke, die selbst nicht eben für ein Zuwenig an Parteiausschlüssen und Einschüchterung in ihrer Geschichte stand, tut heute gut daran, angstfreien Diskurs und Freiheitsrechte zu verteidigen. Und zwar, wie Engels empfiehlt, vor allem gegen deren einstige Erfinder: die heutige (Monopol-)Bourgeoisie.

Also egal, ob sich der Mediziner Wolfgang Wodarg wegen Drohungen zurückzieht oder vor der Wohnungstür des Virologen Christian Drosten Polizei patrouillieren muss: Es sind Schläge auch ins Gesicht der Linken. Und wenn »Bild« gegen Virologen mithetzt und »Spiegel online« die Adresse des Publizisten Ken Jebsen mitteilt, ist das »Bild killt«-Tradition.

Er habe seine Meinung zu oft geändert und dies gar offen zugegeben, wurde da Drosten vorgeworfen. Selbstkorrektur ist für den Springer-Konzern und die ihm befreundeten Parteien offenbar ein Gipfel von Perversion. Andere posten, Drosten plane mit Bill Gates eine globale Impfdiktatur. Die Faktenlage dafür ist zwar dürftig. Aber selbst wenn: Hat es nicht Ärzte gegeben, die sich terroristischeren Großkapitalisten verschrieben hatten als Gates? Der immerhin spendet nicht für Faschodiktatoren. Und Gates fordert sogar Vermögenssteuer und »Sozialismus zur Rettung des Planeten«.

Und dann habe Drosten auch noch als Merkels Rasputin diesen unverhältnismäßigen Lockdown ausgerufen. Aha, das waren also keine Minister? Und auch nicht jene Konzernmedien, die jedes Widerwort gegen Drostens Vorschläge wahllos weggebissen hatten - und zwar so, als ob Professoren wie Bhakdi und Streeck Coronaviren geleugnet hätten oder das sowas sei wie Holocaust-Leugnung.

Zuerst, im Februar, hatte beispielsweise der Chefkommentator des Bayrischen Fernsehens in der Sendung »Quer« noch all diejenigen als Verschwörungstheoretiker denunziert, die den Virus dramatisiert hatten. Am 14. März löschte der Bayrische Rundfunk diesen Kommentar. Um von nun an all die als Verschwörungstheoretiker zu verteufeln, die den Virus entdramatisieren wollten. Überzeugen ohne einzuschüchtern? Fehlanzeige!

2013 hatte die Risikostudie »Pandemie durch Virus Modi SARS« des Robert-Koch-Instituts das Kabinett unbeeindruckt gelassen. Ab März 2018 war u.a. über das »Ärzteblatt« durchgesickert, dass 25.100 Deutsche im vergangenen Winter an Influenza B verstorben waren (in Italien nur ein Bruchteil). Hätte sich unsere marktfanatisierte Regierung allein auf die Rückkehr dieser Grippe vorbereitet (die, wie Covid19, per Tröpfchen klein als 0,005 Millimeter übertragbar wird), es hätte im Februar 2020 zumindest genügend Schutzkleidung gegeben.

Aber Gesundheitsminister Jens Spahn schwadronierte noch Ende Januar, ähnlich wie Donald Trump, von Corona mit »deutlich milderem Verlauf als bei der Grippe«. Und »Bild« titelte gar noch im März mit der Kanzlerin pro Herdendurchseuchung: bis zu 70 Prozent der Bevölkerung würden infiziert. Dann musste ihr wohl jemand gesteckt haben, dass deutsche Intensiv- und Pflegesysteme für solcherlei Ansturm noch nicht ausgestattet seien. Darauf ließ sie große Teile des Kultur- und Bildungsbetriebs und der mittelständischen Wirtschaft lahmlegen.

Während an vielen weiterlaufenden Bändern mancher Konzerne von Mindestabstand keine Rede sein konnte und Amazon, Apple und Facebook monopolkapitalistische Extraprofite einstrichen. BMW profitierte massiv vom staatlichen Kurzarbeitergeld und schüttete seinen Aktionären 1,6 Milliarden Euro Dividende aus - die Hälfte an die Geschwister Klatten/Quandt.

Als sich der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow, dem der medien- und parteiversammelte Neoliberalismus die Beliebtheit neidet, angesichts von niedrigsten Corona-Zahlen in Thüringen erdreistete, seinen Landkreisen und Menschen mehr Eigengestaltung zu überlassen, erklärte Bayerns Regierungschef Markus Söder in allen Medien, seine braven Bayern würden nun von Thüringer Virenattacken bedroht. Verschwörungsszenarien, die Söder seinen Parteifamilienangehörigen Michael Kretschmer aus Sachsen und Sebastian Kurz aus Österreich allerdings ersparte - trotz längerer gemeinsamer und durchlässiger Grenze. Und trotz mehr Lockerungen in Österreich, als in Thüringen. Ist da so schwer nachvollziehen, wenn schlichte Geister hinter planlosen Beschwörungen planvolle Verschwörungen vermuten?

Für Linke sind, zumindest seit Marx‘ »18. Brumaire«, staatliche Verfügungen immer auf ökonomische Interessen zu deduzieren. Was die Krisenanalyse anbetrifft - und natürlich entgegen wohlfeilen Verschwörungsversimplern -, fällt zunächst auf, dass das digitale und pharmazeutische Finanzkapital in der Pandemie enorme Profite macht. Und dass es, in Monopolisierungsabsicht, auf »Marktbereinigungen« und Insolvenzen lauernd, sein Börsenpulver trocken hält, um ab dem Sommer in Aufkaufmodus zu wechseln. Dagegen gerieten mobilitätsfokussierte Konzerne, Maschinenbauer und Mittelschichten ins Hintertreffen - forderten darum schnelle Lockerungen.

Die Linke sollte die Krisengewinnler zur Kasse bitten und weder dem pauschalen Lockdown noch dem pauschalen Lockern undifferenziert in die Fänge arbeiten. Die Interessen der Arbeitskraftverkäufer*Innen (einst Proletariat genannt) bleiben uns in dieser Krise ein guter Kompass und das Grundgesetz eine passable Vermessungsgrundlage.

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