Keine Oppositionskraft in Serbien ist der Fortschrittspartei gewachsen

Regierungspartei möchte Image des Präsidenten als »Retter der Nation« während der Coronakrise in Wählerstimmen ummünzen. Möglichkeiten linker Kräfte sind begrenzt

  • Roland Zschächner
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie sind die Chancen bei den am Sonntag in Serbien stattfindenden Wahlen verteilt?
Das Kräfteverhältnis hat sich seit den Parlamentswahlen 2016 nicht wesentlich verändert. Die regierende Serbische Fortschrittspartei (SNS) wird die Mehrheit der Sitze im Parlament gewinnen und die in den Gemeinden höchstwahrscheinlich behalten. Nach Umfragen könnte sie fast 60 Prozent der Stimmen bekommen und wäre so nicht mehr gezwungen, eine Koalition zu bilden. Obwohl die Sperrklausel von fünf auf drei Prozent gesenkt wurde, werden voraussichtlich nicht viele Listen in der Skupština vertreten sein. Zweitstärkste Kraft wird laut Prognosen mit zwölf Prozent der derzeitige Koalitionspartner, die Serbische Sozialistische Partei (SPS), vier weitere Parteien dürften einziehen. Imteressant wird also, was am Rand passiert.

Warum lässt Präsident Aleksandar Vučić gerade mitten in einer Krise ein neues Parlament wählen?
Mehrere Faktoren kommen zusammen: Zum einen legt die Verfassung die maximale Dauer der Legislatur des Parlaments auf vier Jahre fest. Als Wahltermin war ursprünglich der 26. April geplant. Das war das schon das spätest mögliche Datum. Der Ausbruch der Pandemie und die umstrittene Ausrufung des Ausnahmezustands hatten den Wahlgang aber zunächst verhindert. Der zweite Faktor war der wirtschaftliche Druck, die Einschränkungen zu lockern, sobald die Infektionskurve sich abgeflacht hatte. Unabhängige Untersuchungen zeigen, dass mehr als 200 000 Menschen ihr Einkommen verloren haben. Das sind vor allem Selbstständige, Menschen mit befristeten Verträgen und diejenigen, die im informellen Sektor beschäftigt sind.

Ana Veselinović

Ana Veselinović ist Programmmanagerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Mit ihr sprach Roland Zschächner.

Foto: privat

Hinzu kommt, dass der Großteil der serbischen Industrie in die internationalen Produktionsketten eingebunden ist, so dass der Druck der Märkte zunimmt. Vučić kalkuliert, dass die Länder, die sich zuerst öffnen, wirtschaftlich weniger leiden.

Das autoritäre Regime von Vučić zeigt sich in seiner schlimmsten Form im Corona-Management. Dies hat die Spaltung der Gesellschaft vertieft und die Opposition dazu veranlasst, mit dem Wahlkampf zu beginnen. Da Vučić erfolgreich ein Bild von sich als »Retter der Nation« im »Krieg gegen den unsichtbaren Feind« propagierte, hatte seine Partei großes Interesse daran, die Wahlen so bald wie möglich abzuhalten. Man könnte von einer Funktionärskampagne sprechen.

Im Frühjahr hatten mehrere Oppositionsparteien angekündigt, die Wahl zu boykottieren. Was ist daraus geworden?
Die Situation hat sich etwas geändert: Die neu gegründete linksgerichtete Freie Bürgerbewegung (PSG) des bekannten Schauspielers Sergej Trifunović hat ihre Entscheidung revidiert und die Boykottkoalition des Oppositionsbündnisses »Allianz für Serbien« (SzS) verlassen. Obwohl keine der Forderungen der Opposition erfüllt wurde, und obwohl die PSG einschätzt, dass das Vučić-Regime keine freie und faire Wahlen garantiert, will sie diese für sich nutzen. Die liberal-demokratischen Parteien hingegen vertreten weiterhin die Position, dass eine Teilnahme an den Wahlen das undemokratische Regime nur legitimiert.

Bilden sich Kräfte heraus, die die Dominanz der Fortschrittspartei infrage stellen könnten?
Aleksandar Vučić und seine Partei haben ihre Macht erheblich gefestigt: Die meisten staatlichen Institutionen, öffentlichen Unternehmen sowie Medien wirken im Interesse der Fortschrittspartei und ihrer Geldgeber. Mit geschätzt 750 000 Mitgliedern verfügt der SNS über einen großen Pool von Menschen, die diszipliniert für die Partei arbeiten. Keine Oppositionskraft kann sich daran messen. Vučić scheint nicht zu fassen zu sein, sein Regime immun gegenüber Korruptionsvorwürfen und Skandalen. Es wird viel Mühe und politische Intelligenz erfordern, die Machtverhältnisse in Serbien zu verändern. Bislang scheint kein Akteur der Opposition dazu befähigt zu sein.

Welche Bedeutung haben linke Parteien oder Initiativen?
Linke und progressive Organisationen agieren im Rahmen ihrer Stärke und Ressourcen: So rief die Gruppe »Ne davimo Beograd« mit ihrer Initiative »Lärm gegen die Diktatur« Menschen landesweit erfolgreich dazu auf, ihre Unzufriedenheit mit Vučić auszudrücken. Andere linke Akteure wie die Sozialdemokratische Union haben sich wegen fehlender finanzieller Mittel dazu entschieden, nicht am Wahlkampf teilzunehmen. Sie konzentrieren ihre Kraft darauf, Menschen zu unterstützen und zu vernetzen, deren Arbeitsrechte während der Corona-Abriegelung verletzt wurden. Das stärkste Zeichen der Solidarität setzten die Bewegung gegen Räumungen »Krov nad glavom« (Ein Dach über dem Kopf) und die Initiative »Küche der Solidarität«, die Menschen in sozialer und wirtschaftlicher Not direkte Hilfe zukommen ließen.

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