Die letzte Ernteschlacht verlor die DDR
Warum ostdeutsche Bauern im Juli 1990 ihre Milch mit Jauchewagen auf die Felder kippten
Bei den Ertragskennziffern bedeutender landwirtschaftlicher Produkte nahm die DDR unter ihren osteuropäischen Nachbarn eine führende Stellung ein. Auch im Vergleich mit den westeuropäischen Ländern konnten sich die Leistungen der DDR-Landwirtschaft sehen lassen. So wurden beispielsweise Ende der 80er Jahre 54 Dezitonnen Weizen je Hektar eingefahren. Zum Vergleich: In der Bundesrepublik und in Frankreich waren es wenig mehr (58,2 dt/ha beziehungsweise 55,6 dt/ha), während der Hektarertrag in Italien (30,0 dt/ha) und in Spanien (26,0 dt/ha) deutlich unter dem DDR-Niveau lag.
Dem Wegfall der innerdeutschen Zollgrenze mit der Währungsunion am 1. Juli 1990 glaubten viele DDR-Landwirte und -Bauern relativ gelassen entgegensehen zu können. Eine neue Herausforderung gewiss, aber auch eine Chance, etwa durch den nunmehr möglichen direkten Zugang zu westdeutscher Agrartechnik. Doch was man ab Mitte Juli dann aus den Medien über die DDR-Landwirtschaft erfuhr, stimmte nicht zuversichtlich. Es mehrten sich die Fälle von zahlungsunfähigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG).
Allein im Kreis Königs Wusterhausen südlich von Berlin waren im letzten Sommer der DDR bereits 10 von 17 LPG pleite. Als die Proteste der zunehmend verzweifelten LPG-Bauern vielfach unerhört verhalten, starteten diese nunmehr spektakuläre Aktionen, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Im Bezirk Dresden kippten sie Milch mit Jauchewagen auf die Felder, im Bezirk Schwerin allein 50 000 Liter Frischmilch auf die grüne Wiese. In Berlin marschierten aufgebrachte Bauern mit ihren Rindern vor die Volkskammer. Nicht nur Bullen und Kühe, auch Schweine und Schafe, Milch und Butter wurden ihnen von DDR-Handelsketten kaum noch abgekauft. Stattdessen boten jene nun auch vorrangig Lebensmittel aus dem Westen an. HO und Konsum, die selbst um ihre Existenz im bald wiedervereinigten Deutschland bangen mussten, machten sich zu Erfüllungsgehilfen von Kohl & Co. sowie westdeutschen Großkonzernen. Sogar Kartoffeln, Kirschen, Gurken und Blumenkohl wurden von »drüben« geliefert; kaum ein Produkt der DDR-Landwirtschaft kam noch in nennenswertem Umfang in den Großhandel.
Einige bundesdeutsche Agrarexperten versuchten die DDR-Bauern mit der Aussicht auf neue Absatzgebiete in der Europäischen Gemeinschaft zu vertrösten. Derartige Hinweise erwiesen sich jedoch als wenig erfolgreich. Einerseits entsprachen DDR-Erzeugnisse nicht den Verpackungsvorschriften der EG, andererseits wurden Schädlingsbekämpfungs- und Düngemittel in der DDR weitaus großzügiger verwendet als innerhalb der Europäischen Gemeinschaft erlaubt.
Den verantwortlichen Politikern in Bonn und Ost-Berlin hätte klar sein müssen, dass die ostdeutschen Landwirtschaftsbetriebe Zeit für eine Umstellung brauchten, die ihnen angesichts des von Kohl durchgedrückten und vom letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière mitgetragenen Vereinigungstempos nicht gewährt wurde. Die DDR-Regierung hätte Einfuhrbeschränkungen ab dem 1. Juli 1990 erlassen können oder müssen, um das Einströmen von westlichen Agrarprodukten auf ein Maß zu begrenzen, das die ostdeutschen Bauern vor dem Ruin schützte. Tatsächlich hatte es innerhalb der Regierung de Maizière derartige Überlegungen gegeben. Es war sogar eine »Anstalt für landwirtschaftliche Marktordnung« gegründet worden, um die Einhaltung von Einfuhrbeschränkungen zu überwachen.
Doch die seit der Bekanntgabe des Termins der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion durch den Bundeskanzler auf den ostdeutschen Markt als zusätzliches Absatzgebiet fixierten westdeutschen Handelsketten dachten nicht daran, sich irgendwelchen Anstandsregeln zu unterwerfen. Westwaren strömten faktisch unkontrolliert über die grüne Grenze zwischen Bundesrepublik und der DDR. »Die Zöllner waren nicht bereit, sich der Situation zu stellen«, schob de Maizière in einer Runde seines Kabinetts die Schuld auf andere. »Konfliktscheu« nannte er gar die Mitarbeiter des DDR-Zolls.
Penibel eingehalten wurden dagegen weiterhin die Vorschriften für die Einfuhr von Landwirtschaftsprodukten aus der DDR in den EG-Raum. Im Ostberliner Landwirtschaftsministerium berechnete man im Juli 1990, dass von den insgesamt 4500 LPG und VEG etwa 1500 nicht überlebensfähig seien; rund die Hälfte der 800 000 Bauern und Landarbeiter müsse sich bald eine neue Beschäftigung suchen. Diese düstere Prognose war leider nicht übertrieben. In den Genuss der jahrzehntelangen westlichen Tradition der Agrarprotektion kam die DDR-Landwirtschaft nicht. Dies war nicht gewollt.
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