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Die Kunst, sich selbst hinterherzublicken

Zwei Berliner Ausstellungen zum 110. Geburtstag von Arno Mohr

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.

Kunstmaler wollte er werden, durfte er aber nicht. Mit einer Vier in Zeichnen! Aber irgendetwas mit Kunst sollte es schon sein. Also eine Lehre als Schildermaler, das ist doch auch fast Kunst.

Nein, es war mehr als Kunst: ein Handwerk mitten im Alltag der Menschen. Drei Jahre von 1924 bis 1927 lernte er bei Ladewig & Co in Posen, worauf es ankam: Man muss immer auf den ersten Blick erkennen, worum es geht. Der erste Blick kann trügen, dann hat man was zu denken. Aber wenn erst gar keiner hinschaut, hat man schon verloren - das gilt für jedes Schild, und auch das künstlerisch gestaltete Werk ist insofern nur ein Spezialfall des Schildes.

Arno Mohr wurde am 29. Juli 1910 in Posen geboren. Er starb am 23. Mai 2001 in Berlin. Gleich zwei Berliner Galerien, Sandau & Leo und Helle Coppi zeigen zu seinem 110. Geburtstag zahlreiche Werke. Vor allem sind es kleine grafische Blätter: Lithografien, Radierungen, Zeichnungen (auch farbig übermalte) und Pastelle. Keine Gemälde? Vielleicht wäre aus Arno Mohr ein zweiter Werner Tübke geworden mit großen Wandgemälden. Aber 1949 stellte sich eine Weiche anders für ihn. Da war er schon Kunstprofessor in Berlin-Weißensee und hatte mit René Graetz und Horst Strempel das Wandbild »Metallurgie Hennigsdorf« gemalt, vier Meter hoch und 16 Meter breit! Es muss wohl zu viel Expressionismus seines Vorbildes Otto Dix darin gewesen sein, denn mit diesem Industrie-Bild geriet Arno Mohr ins Visier der Kunstdogmatiker, die das Verbot von Stalins Mann für Kunst, Andrej Schdanow, derart nichtnaturalistisch zu malen, auch in der DDR durchsetzten. Das sei Formalismus, und dieser sei spätbürgerlich-dekadent.

Wir kennen »Metallurgie Hennigsdorf« nicht, denn das Bild wurde beschlagnahmt und vernichtet. Und Mohr fertigte fortan nur noch kleine Bilder, zog sich zurück in Druckwerkstätten, wo er Berliner Alltag, bevorzugt von befreundeten Künstlern, oft auch aus dem Theater, in Szene setzte.

Aber diese miniaturisierte Form ist bei Mohr nie naiv. Was auf den ersten Blick als spontane Momentaufnahme erscheint, wurde präzise gearbeitet. Geometrie statt Gefühl! Das liegt daran, dass dieser Grafiker, während er schaut, zugleich denkt. Die Bildaufteilung berechnet er genau, samt gewollter Brüche. Das erst macht den Reduktionismus seiner Bilder, der eine Form konzentrierter Verdichtung ist, zu einem Akt der Magie.

Eigentlich hat er nie Modelle gebraucht, auch für sein berühmtes »Brecht in Buckow«, eine kleine Radierung, hatte er Brecht nicht vor sich: »Ich brauch immer Distanz, auch Brecht hab ich auswendig gezeichnet, und Holzschnitte und alles und Lithos und Radierungen.« Erst muss das Gesehene zum Erinnerungsbild werden, sich mit dem verbinden, was man weiß, dann erst gelingt der bildhafte Ausdruck. Dieses Arbeitsprinzip ist das Gegenteil von Impressionismus - es zielt auf bewussten Ausdruck, aber nur punktuell einen übersteigerten, wie ihn der Expressionismus forcierte.

Mohr setzt die Kontrapunkte im Bild immer dezent, aber präzise, es sind filigran gearbeitete Verfremdungen, die er sich von Brechts epischem Theater abgeschaut haben mag. Wen interessieren schon die emotionalen Aufwallungen eines Künstlers, wo es doch um das bewusste Erzeugen von Wirkungen geht! Mit diesem fremden Blick durchmustert Mohr auch seine eigene Biografie. Beide Berliner Ausstellungen zeigen Blätter, die einen weiten Erinnerungsbogen schlagen, darunter: »Meine Eltern«, »Im Kinderwagen«, »Musikunterricht«, »Erster Malversuch« - und auch »Schilder-Malerei« und »Als Schildermacher auf Montage« -, alle um 1961 herum entstanden, da hatte Mohr gerade seinen 50. Geburtstag hinter sich und begann eine Art Lebensresümee. »Schilder-Malerei« zeigt einen Torbogen, durch den ein Junge mit einem Zeichenblock unter dem Arm an der Hand seines Vaters hindurchgeht. Beide tragen sie Hüte. Ein Schelm, wer dabei an einen Triumphbogen denkt!

Das jederzeit Besondere an Mohrs zeichnerischem und grafischem Werk ist, dass es von einem verborgenen Witz lebt, der den nur mühsam im Zaum gehaltenen Karikaturisten offenbart. Aber dieser Witz trumpft nie grell auf, wird kontrastiert von einem melancholischen Gestus des permanenten Abschieds. Beides zugleich erst macht den Zauber dieser Miniaturen aus.

Zwei Blätter von 1960 offenbaren den dramatischen Instinkt Mohrs, jedoch wie tiefgefroren. Das wenige, was gezeigt wird, ist notwendig. Hier ist keinerlei Spielraum mehr. Alle Fluchtmöglichkeiten sind schon verpasst. So in »Krieg«, einer Radierung, die aus wenigen Strichen besteht. Im Vordergrund ein einziger Soldat im Profil, Stahlhelmträger - um ihn herum das Nichts des Schlachtfeldes. Einige Striche zeigen Detonationen, das sind explodierende Granaten, schwarze Punkte lassen tödliche Kugeln vermuten. Eine Landschaft des Todes. Dem reglosen Soldaten im Vordergrund bleibt nur noch eine kurze Frist. All das erzählt Mohr mit einem Minimum an Mitteln. Die zweite Radierung, »Zeit der Helden«, zeigt eine Probe auf dem Theater. Ein Ritterstück mit Lanze, Helm und Schild auf der einen und eine umworbene posierende Jungfrau auf der anderen. Im Vordergrund klein und unscheinbar sitzt der Regisseur.

Helden, das zeigen die beiden Bilder, gibt es für Mohr nicht; den großen Posen begegnet er mit Misstrauen. Seine Skepsis trifft alles pathetisch Auftrumpfende. Denn er weiß: Schmerz und Trauer, wo sie echt sind, treiben niemanden zum großen Auftritt, lassen ihn eher allein und vergessen in einer Wüste zurück. Immer ist da eine Ahnung der Schwere, auch die von körperlicher Arbeit und dem Wunder, das darin liegt, dennoch zur Leichtigkeit zu gelangen. So sehen wir dann auch eine Primadonna beim Verbeugen. Ein graziler Augenblick, der doch nicht verbergen kann, dass auch er einstudiert ist. Sie hat ihre Arbeit vollbracht, die darin besteht, mittels Tanz Körperlichkeit in einen künstlerischen Ausdruck zu verwandeln, dem man die dazu erforderliche Kraftanstrengung nicht mehr ansieht.

Alles in der Kunst sind zuletzt Per-spektivfragen. Das zeigt die Radierung »Brille«, auf der sich auch drei Fliegen befinden. Eine, die hinter dem einen Glas wie unter einer Lupe sitzt, erscheint riesenhaft. Zwei andere, die davor herumlaufen, sind dagegen so klein, wie Fliegen nun mal sind. Minimalistischer kann man die menschliche Komödie nicht ins Bild setzen.

Ungewöhnlich ist an Mohrs Per-spektive auf die Welt und die Menschen darin, dass er häufig Rückansichten wählt. Der Künstler blickt Passanten hinterher, die sich bereits wieder entfernen. Als hätte er den rechten Augenblick verpasst, ihnen entgegenzutreten. Dem Zögerlichen bleibt nur noch wieder einmal wachsende Entfernung zu konstatieren. So in den Blättern »Frau mit Hund« oder auch im Bildnis jenes abendlichen Spaziergängers im Spätherbst (das deuten eine Laterne und die kahlen schwarzen Zweige eines Baums an), der, die Arme auf dem Rücken verschränkt haltend, bereits vorbeigegangen ist. Arno Mohr selbst sich hinterherblickend?

Galerie Sandau & Leo, Tucholskystraße 38, Berlin, bis 15.8.; Galerie Helle Coppi, Auguststraße 83, Berlin, bis 4.9.

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