Bitte niemals Germanisten ranlassen!

Im Berliner Literaturforum im Brecht-Haus findet noch bis zum Freitag die »Wolfgang-Herrndorf-Woche« statt

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf, der vor sieben Jahren den Freitod wählte, war ein meisterhafter Erzähler. In seinem Werk gelang ihm das Unwahrscheinliche - die Verbindung von Poesie und Trivialem, von Genre und Erfahrung.

Ob nun Hauptstadtroman wie »In Plüschgewittern«, Erzählungen wie »Diesseits des Van-Allen-Gürtels«, Jugendroman wie »Tschick« oder Thriller wie »Sand«, jedes Mal bewies Herrndorf, dass gutes Erzählen nicht da anfängt, wo man auf das Genrehafte verzichtet, sondern wo man es beherrscht.

Ein Lebensautor sei er für ihn gewesen, erzählte sein Rowohlt-Lektor Marcus Gärtner am Montagabend. Im Hinterhof des Berliner Literaturforums im Brecht-Haus fanden sich, verstreut auf einzeln stehende Stühle verteilt, Fans und Forscher zur ersten Veranstaltung der sogenannten Wolfgang-Herrndorf-Woche zusammen.

So erläuterte etwa Steffen Martus, Literaturprofessor an der Humboldt-Universität, wie Herrndorf sich auf literarische Traditionen bezog. Wenn die beiden Freunde in »Tschick« andächtig ein Gewitter betrachten und mit »Independence Day« kommentieren, so findet sich die Vorlage hierfür bei Goethes »Werther«, wo Lotte bei der Betrachtung eines Unwetters auch ein Wort entfährt: »Klopstock!«. Das sei bei Goethe schon das gemeinsame Erleben in der Verbindung von Naturphänomen und Popkultur gewesen, sagt Martus. Und Herrndorf habe einfach begriffen, was Goethe macht. Eine solche Bezugnahme ist nicht parodistisch oder ironisch, sondern legt den Gehalt frei. Der Dritte in der von Gesa Ufer moderierten Runde war der Feuilletonist Tobias Rüther, zugeschaltet per gelegentlich funktionierender Videoübertragung. Rüther, der zurzeit an einer Herrndorf-Biografie arbeitet, interessierte sich vor allem für die Inszenierungsstrategien des Autors. Es sei kokett und prätentiös von Herrndorf gewesen, sich literaturbetriebsfern zu geben, so Rüther. Niemals Germanisten ranlassen, Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben, hatte Herrndorf selbst geschrieben. Nun saßen sie beisammen, Germanisten und Journalisten.

Das Grab des Schriftstellers, der 2013 aufgrund der in seinem online geführten Tagebuch »Arbeit und Struktur« geschilderten schweren Erkrankung, an der er litt, sein Leben beendete, liegt auf dem benachbarten Dorotheenstädtischen Friedhof.

Gärtner, Martus und Rüther hatten jeweils eine Passage aus Herndorfs Werk ausgewählt und vorgetragen. Neben der oben bereits erwähnten Gewitterszene handelte es sich um die ersten beiden Kapitel aus dem unvollendeten Roman »Bilder deiner großen Liebe« und einen pointierten Tellkamp-Verriss aus »Arbeit und Struktur«. Neben solchen direkten Zugriffen verlief sich die Diskussion teils in Gefilden, die nur noch lose mit dem Thema des Abends - Werk und Wirkung - in Verbindung standen.

Doch ein Abend macht noch keine Woche, weitere Diskussionen über »Tschick«, über Herrndorfs Weg vom Maler zum Schriftsteller, über Krankheit und Literatur sowie über Freundschaften und Arbeitsbeziehungen finden bis Ende der Woche statt und sind auch im Internet nachzuverfolgen. Und wenn man dann zu später Stunde aus der Gaststätte »Prassnik« auf die Torstraße tritt und den Blick gen Sterne richtet, weiß man: Es ist Herrndorf-Woche.

Wolfgang-Herrndorf-Woche im Literaturforum im Brecht-Haus, Chausseestr.125. Bis zum 17. Juli.

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