Trauriger Entdecker

Erneut Columbus-Statuen gestürzt

»Wenn die Neugier nicht wär,/ müsste ich nicht mehr wandern./ Kein Kolumbus führ’ mehr/ von ’ner Küste zur andern./ Doch wo bliebe denn da Amerika,/ wenn die Neugier nicht wär.« Ein populärer Song der Singebewegung in der DDR, getextet von Paul Wiens und komponiert von Perry Friedman, kanadischer Folksänger, der noch mit Paul Robeson sang und in den ostdeutschen »Arbeiter- und Bauern-Staat« übergesiedelt war. Wäre Amerika unentdeckt geblieben, wenn Christoph Columbus nicht so besessen von der Idee gewesen wäre, westwärts einen Seeweg nach Indien zu finden? Wäre ohne den visionären genuesischen Seefahrer in kastilischen Diensten den Indigenen in der damaligen sogenannten Neuen Welt Leid und Elend, Mord und Totschlag, brutale Missionierung und Sklaverei erspart geblieben?

Es wäre wohl ein anderer Weißer in die Annalen der Geschichte als »Entdecker« des Doppelkontinents eingegangen, der letztlich, nach dem Tod von Columbus, nach einem Rivalen, dem aus Florenz stammenden Kaufmann und Seefahrer Amerigo Vespucci, benannt wurde. Er landete nur wenige Jahre später an der Ostküste Südamerikas an und korrigierte in seiner Beschreibung »Mundus Novus« den Irrtum des Genuesen. Von Vespucci stammt auch die Bezeichnung Venezuela (Klein-Venedig); die Pfahlbauten der Ureinwohner dort hatten ihn an die oberitalienische Lagunenstadt erinnert. Ein halbes Jahrtausend vor diesen beiden waren jedoch bereits Wikinger unter Leif Eriksson und Bjarni Herjúlfsson an amerikanischer Küste gestrandet. Ihr Besuch war nicht von bleibender Wirkung. Ebenso wenig vorherige Stippvisiten der Phönizier oder der Flotte der Ming-Dynastie unterm kaiserlichen Admiral Zheng He.

Vespucci starb 1512 in Sevilla, Columbus sechs Jahre zuvor in Valladolid, ebenfalls Spanien. Beiden kann man den Genozid an den 500 Nations und den afro-amerikanischen Sklavenhandel eigentlich nicht anlasten. Und doch sind am Wochenende wieder zwei Columbus-Statuen gestürzt worden - in Chicago. Er gilt als Inkarnation der Verbrechen der ihm folgenden Conquistadores, Eroberer, Missionare, Abenteurer, Pilgrims und Siedler. Zu Recht? Zweifellos, Hernán Cortés, Generalgouverneur von Neuspanien, hat Mitte des 16. Jahrhunderts mit Feuer und Schwert, Heimtücke und Vertragsbruch das einst stolze Aztekenreich zerschlagen und die Maya brutal unterjocht, Francisco Pizarro die Inka gnadenlos niedergemetzelt. Aber Columbus?

Ja, er hat als erstes ein überdimensioniertes Holzkreuz errichten lassen, als er mit seinen Mannen am 12. Oktober 1492 nach mehrwöchiger, zermürbender Fahrt Land erreichte, eine Insel, die von den Einheimischen Guanahani genannt wurde und die er San Salvador taufte (Heiliger Retter). Und ja, er wollte seiner Mentorin und Sponsorin, der streng katholischen Königin Isabella I. von Kastilien, Gold und andere Schätze von seinen Reisen mitbringen. Und ja, schon von der ersten kam er mit einigen »Indianern« zurück, um sie der Regentin vorzuführen, die just ihre blutige »Reconquista« (Rückeroberung), also die Vertreibung der Mauren von der Iberischen Halbinsel, mit der Einnahme von Grenada »krönte«. Und die sich natürlich von Columbus’ Ausflügen gen Westen Reichtümer und die Erweiterung ihres Imperiums versprach und nicht nur Ruhm und Ehre durch Eröffnung neuer Horizonte.

Nach seiner dritten Überfahrt musste Columbus erkennen, dass einige seiner bei der zweiten Reise zurückgelassenen Begleiter in seiner Abwesenheit und unter dem Kommando einer Bande junger, gieriger Adliger grausam gewütet und Unfrieden gestiftet hatten, die »Eingeborene« mit Peitschen in die Minen trieben und ihnen die Hände abhackten, wenn sie kein Gold fanden. Worauf er an den Frevlern kurzerhand ein Standgericht abhielt; deren Wortführer, Adrián de Moxica, soll er gar selbst zur Strecke gebracht haben. Was Hof und Kurie in Spanien unerhört fanden. Woraufhin sie ihn und seine Brüder in Ketten legen und in einem Kerker schmachten ließen. Die letzten Lebensjahre des Mannes, der Großadmiral der Ozeanischen Meere und Vizekanzler sein wollte, waren überschattet von Verbitterung und Einsamkeit, von der Öffentlichkeit verlacht, vergessen.

»Die Entdeckung Amerikas war für das Leben auf unserem Planeten das folgenreichste Ereignis seit dem Aussterben der Dinosaurier«, meint der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist Charles C. Mann. Millionen Jahre waren die Hemisphären weitgehend voneinander isoliert gewesen. Mit Columbus traten sie in einen Austausch. Globalisierung. Menschen, Pflanzen, Tiere, aber auch Krankheiten gelangten in neue Lebensräume und schufen eine Welt, in der nichts blieb, wie es war. Leider auch zum Unguten. Europa stieg zu einer Kolonial- und Weltmacht auf.

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