Verscheucht und verdrängt

Ein Runder Tisch in Lichtenberg beschäftigt sich mit Problemen der Obdachlosen

  • Jordi Ziour
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Bahnhof in Berlin-Lichtenberg ist es stiller geworden. Der Grund: Die Bänke wurden abgeschraubt, die Obdachlosen und Trinker, die sich hier aufhielten, vertrieben. Sie prägten das Bild des Bahnhofs seit Jahren mit. Jetzt halten sie auf der anderen Straßenseite auf - an der Brache Ecke Wönnichstraße/Weitlingstraße vor der Robinson-Grundschule. Doch auch hier durften sie nicht lange bleiben: Ein Zaun hält die Campierer fern. Bezirksamt und Sozialarbeiter sind ratlos, wie mit der Situation umgegangen werden soll. Ein Runder Tisch soll es richten.

Einer der Verscheuchten ist Fred, 67 Jahre alt, der seit sechs Jahren auf der Straße wohnt. Zuletzt habe er neben der Robinson-Schule gelebt, erzählt er dem »nd«. »Im strömenden Regen haben sie uns unter die Brücke geschickt.« Die Polizei sei es aber nicht gewesen. Heute lebt er wieder auf dem Bahnhofsvorplatz. »Bis das Ordnungsamt kommt«, sagt er.

Bis zur Räumung Anfang des Jahres trafen sich gelegentlich bis zu 80 Menschen - meist Obdachlose und Trinker - auf dem Bahnhofsvorplatz. Die »Lichtenberger Platte« hieß der Ort damals. In der Ecke des Platzes, leicht versteckt hinter dem Eingang der Bahnhofsunterführung, richteten sie sich ihre Unterkunft mit Sofas, Bücherregalen, Dixi-Klos und einer Kochstelle ein. Daraufhin zogen vor allem die Trinker 20 Meter weiter auf die Sitzbänke vor einen Dönerladen. Im Gespräch mit dem »nd« erzählt der Verkäufer, dass diese Menschen »gefährlich« gewesen seien und Tische geklaut wurden. Auch ein Anwohner, der seinen Namen ebenfalls lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, freut sich, dass die Obdachlosen verscheucht wurden. »Die kommen alle mit dem Zug aus Warschau und denken, hier haben sie ein schönes Leben«, sagt er. Und erzählt weiter, dass er nichts gegen die Leute habe und selbst schon »ganz unten« gewesen sei.

Bezirksbürgermeister Michael Grunst (Linke) erklärt dem »nd«, dass das Ordnungsamt im Sommer 2020 erneut auf die Situation auf dem Bahnhofsvorplatz aufmerksam gemacht wurde. Der Grund dafür, dass die Bänke abgeschraubt wurden, sei gewesen, dass die Menschen ungeachtet der Coronakrise vor dem Dönerladen keine Abstände einhielten. Er gehe selbst manchmal dort vorbei. »Schön war anders«, sagt er.

Wer aber den Zaun auf dem Privatgrundstück vor der Robinson-Schule aufgestellt hat, wisse er selbst nicht, so Grunst. Verwundert spekuliert er, ob das vielleicht der Eigentümer gewesen sei. Er selbst glaube nicht, dass es das Ordnungsamt oder die Polizei waren. Katrin Schwabow meint, mehr zu wissen. Sie ist Bereichsleiterin des Humanistischen Verbandes Deutschlands, der den Tagestreff für Wohnungslose und Bedürftige am Lichtenberger Bahnhof organisiert. Dem »nd« vertraut sie an, dass der Eigentümer der Brache - soweit ihr bekannt - die Polizei bestellt habe, um den Ort vor der Schule räumen zu lassen. Der ließ auch meines Wissens nach den Zaun aufstellen.

Sie beobachtet die Szenerie am Bahnhof schon seit Längerem: »Die Situation Anfang des Jahres war die, dass die Deutsche Bahn den Platz geräumt hat, weil dort Fahrradständer hin sollten.« Als dann im Sommer auch noch die Bänke abgebaut wurden, war die Folge, dass die Obdachlosen- und Trinkerszene auf den Skaterplatz und die Brache direkt neben der Schule auswichen. »Das war erst einmal nicht das Superproblem, weil Schulferien waren«, sagt sie. Doch mit dem Beginn der Schulzeit ändert sich das.

Ein Runder Tisch soll jetzt die Situation entschärfen. An dem sitzen Sozialarbeiter, Vertreter des Ordnungsamtes, der Deutschen Bahn, der Berliner Verkehrsbetriebe und der Stadtteilkoordination Lichtenberg. Das erste Treffen fand vor wenigen Wochen statt. Laut Bürgermeister Grunst ist als erstes Ergebnis vereinbart worden, dass die Menschen nicht einfach vertrieben werden sollen, da sie in den Kiez ausweichen würden. Die Probleme am Platz würden sich damit nur verlagern. Längerfristig will man nach Möglichkeiten suchen, wie der Bahnhof und die unmittelbare Umgebung für Obdachlose genutzt werden könnten. Das nächste Treffen des Runden Tisches wird vermutlich im Herbst sein.

Eine Lösung kann lange auf sich warten lassen. Bis dahin wird sich Fred einen Heizstrahler kaufen. »Dann habe ich einen warmen Arsch«, sagt er und lacht.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.