Gedichte wie ein Messer

Zum Tod der Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Wort von der Zeitzeugin soll adeln, aber es ist ein Stempel, der lügt. Eine Zeugin wäre »nur« Beihilfe zur Wahrheit; immer bleibt doch ein gewisser Abstand, der die Aussage beglaubigt - einer Zeugin ist das Glück beschieden, nicht wirklich drin zu sein im Grauen, nicht unmittelbar dran zu sein, wenn der Mörder sein Werk tut. Zeugenschaft ist Nähe - und gleichzeitiges Draußen. Auch Ruth Klüger, ausdauernd eine Zeitzeugin genannt, war keine. Denn da gab es keinen Abstand, nein, sie war drin im Grauen und eine von den Vielen, die unmittelbar und gnadenlos drankamen, als das Morden zum deutschen Regime geworden war. Ihr Zeugnis bleibt das direkte, dreckige, barbarische Erleben.

1944 muss sie sich, mit zwölf Jahren, im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau für die Selektion einreihen. Eine Frau flüstert ihr zu, sich als Fünfzehnjährige auszugeben. So überlebt sie, gleichsam durch einen Zufall, im Arbeitslager Christianstadt - in der Fron der Waldrodungen und des Stahlschienenschleppens. Der Vater - ein jüdischer Frauenarzt - und der Bruder werden vernichtet, die Mutter muss in einer Munitionsfabrik arbeiten, aber auf einer der Todesmärsche am Ende des Krieges kann sie mit ihrer Tochter fliehen. Zu einem »Gespenst« war der Vater dem Mädchen geworden, denn er hatte nachts überstürzt die Wiener Wohnung verlassen müssen, das Kind sah ihn noch einmal, im Dämmerschlaf der nur halb geöffneten Augen.

»weiter leben. Eine Jugend« wird die im Oktober 1931 geborene Ruth Klüger, bis zuletzt Literaturprofessorin im kalifornischen Irvine, sehr viel später ihre erste Autobiografie nennen. Darin der Satz: »Die Folter verlässt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht.« Nicht das quälende Verhältnis zwischen Opfern und Tätern hat sie umgetrieben, sondern die peinigende Differenz zwischen Gefangensein und Freiheit. »Ich habe Kinder, ich habe aufatmen können nach dem Krieg, ich blicke offen in die Welt, aber wirklich frei war ich nur bis zu dem Moment, da ich mich als jüdisches Mädchen in Wien plötzlich nicht mehr auf eine Parkbank setzen durfte.«

Jene frühe Erfahrung eines Leids, das unübertragbar bleibt, hat aus Klüger, die über die Lyrik des Barock promovierte, eine wartende Dichterin geformt. Erst im hohen Alter veröffentlichte sie die Gedichte ihres Lebens, versah sie mit Kommentaren: »Zerreißproben«. Ihre Verse nennt sie »Messer«, als habe sie sich so einen rettbaren Kern Existenz aus dem Elend der Last geschnitten. Gedichte des jungen Mädchens vor und nach Auschwitz, Gedichte über den Wandel der lebenslangen Träume, denen das Schreckliche doch immer eingeschrieben bleibt. Das Deutsch als Fluch und Lockung, wie es Paul Celan durchlitt: dieses Wagnis, in der Sprache der Mörder eine Reinheit des Empfindens durch die Zeiten zu tragen.

Eine Reinheit, die darum weiß, dass sie nur in den Gefilden der Poesie zu behaupten und zu bewahren ist. Alles so zerbrechlich, alles so dünnwandig, alles so unbeständig. Und das wahre Elend des Durchschmerzten: Das Leben, auch wenn die Jahresringe wachsen, blieb beizeiten etwas Stehengebliebenes, Erstarrtes, das nur mit den Selbststeigerungsfähigkeiten des sehnenden Bewusstseins in Bewegung gehalten wird. Vielleicht, sagte Ruth Klüger einmal, sei sie nur deshalb eine »Draußen-Germanistin« in den USA, eine Literaturwissenschaftlerin geworden, »weil ich so das Dasein - wenn mir schon nicht beschieden ist, es unbeschattet zu leben - wenigstens in größtmöglicher Farbigkeit interpretieren kann«.

Freundschaft verband sie mit Martin Walser, den sie beim Studium in Regensburg kennengelernt hatte. Dessen Roman »Tod eines Kritikers« trieb einen Riss in die Freundschaft, Ruth Klüger sah in den metaphorisch getarnten Attacken auf Marcel Reich-Ranicki ein »antisemitisches Ansinnen«. Man hat ihr mitunter Härte vorgeworfen, Unversöhnlichkeit. »Ja, bestimmte Ressentiments halte ich durch: Kriegsverbrechen sind Kriegsverbrechen.« Wenn es schwierig wird, gehe sie einfach weg. »Und wenn es ganz schwierig wird, schütte ich jemandem ein Glas Wein ins Gesicht - und gehe dann weg.«

Sowohl die Erinnerungen der Autorin als auch ihre Essaysammlungen (»Katastrophen«, »Frauen lesen«) waren Stolzlektionen des Jüdischen und des Feministischen. Kämpferisch mit Maß. Aufgebracht mit kulturvoller Beherrschtheit. Hervortretend mit Zurückhaltung. Stets bedacht, sich nicht fortreißen zu lassen. Auch nicht in den Mythos, ins Bild der Märtyrerin: Nach dem Krieg hatte sie sich, gegen alle Gepflogenheit, ihre KZ-Nummer vom Arm entfernen lassen.

Sie sprach 2016, zum Holocaust-Gedenktag, im Deutschen Bundestag und bekannte, sie sei »eine von den vielen Außenstehenden, die von Verwunderung zu Bewunderung übergingen«. Eine aufatmende Wahrnehmung deutscher Willkommenskultur. »Unterwegs verloren« heißt der zweite Band ihrer Autobiografie. Der Titel ist eine Anleihe bei Herta Müller: »Einmal ging ich unterwegs verloren, einmal kam ich an wo ich nicht war.« Der Vertriebenendruck. Die Heimatlosigkeit. Daraus wuchs Entschlossenheit: bloß kein Vertrauen in eine geschichtliche Lehre, die das Erlebte einebnet, abmildert. Nur keine Dienstbarkeit für eine höhere Lehre, die das Bewusstsein einer bösen Kontinuität zerstört, relativiert. Also: keinen Verrat der eigenen Erfahrung an die jeweils wechselnden Perspektiven der Gegenwart. Es gibt kein neues Leben.

Einzig mögliche Rettung ist das treue Beharren auf Vorsicht. Vor zu viel Hoffnung. Ruth Klüger, die nun im Alter von 88 Jahren gestorben ist, hielt sich stets an den Gedanken des polnischen Schriftstellers Tadeusz Borowski, der auch in Auschwitz-Birkenau war. Er sagte, Hoffnung mache feige, verdunkle den Blick auf die Realität. »Immer sind Leute, die gedacht haben, es wird schon irgendwie wieder, zuerst umgekommen.«

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