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  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Die Steinzeit war eine Tragetaschenzeit

Wir werden nicht frei sein, wenn wir uns Freiheit nicht vorstellen können: Die Essays von Ursula K. Le Guin

  • Thomas Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Welche Chancen, aber auch welche Probleme brächte es mit sich, in einer Gesellschaft zu leben, die ganz und gar dem Prinzip der Herrschaftsfreiheit verpflichtet wäre? Und wie würde sich unser Denken und Fühlen ändern, wenn wir Körper bewohnten, die ihr biologisches Geschlecht nach einiger Zeit änderten und es insofern eine ganz alltägliche Erfahrung wäre, als Frau buchstäblich in die Haut eines Mannes zu kriechen und umgekehrt? Antworten auf diese Fragen hat die 2018 im Alter von 88 Jahren im US-Bundesstaat Oregon verstorbene Schriftstellerin Ursula K. Le Guin gegeben. Mit Romanen wie »Freie Geister« und »Die linke Hand der Dunkelheit« hat sie das Genre der utopischen Erzählung um einen anarchistischen und einen queerfeministischen Klassiker erweitert.

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Ursula K. Le Guin: Am Anfang war der Beutel. A. d. amerik. Engl. v. Matthias Fersterer.
Thinkoya, 98 S., br., 10 €.

1997 veröffentlichte sie ihre Neuübersetzung des Laozi zugeschriebenen chinesischen Philosophie-Klassikers »Daodejing«. Großen Erfolg beim Publikum waren den Büchern aus ihrer Fantasy-Reihe »Erdsee-Saga« beschieden. Weniger bekannt sind hingegen ihre essayistischen Arbeiten. Daher ist es nur zu begrüßen, dass unter dem Titel »Am Anfang war der Beutel« einige ihrer wichtigsten Aufsätze und Vorträge nun auch in deutscher Sprache vorliegen.

Die als Tochter des Ethnologen-Paares Alfred und Theodora Kroeber in einem Haushalt mit einer großen Bibliothek sowie Einblicken in ganz andere Gesellschaftsformen in Kalifornien groß gewordene Autorin entwickelt darin eine Poetologie, mit der sie die Gedanken ihres Lesepublikums mithilfe der Vorstellungskraft auf subversive Wege lenken will. Sie will Geschichten erzählen, aber keine Geschichten, die nur dabei helfen, sich in die bestehenden Herrschaftsordnungen einzufügen.

Wie wäre es, lädt sie ihre Leserinnen und Leser ein, sich die Anfänge der menschlichen Kultur einmal anders als ein Hauen und Stechen mit harten und spitzen Gegenständen vorzustellen? Viel elementarer als Keulen, Speere und Pfeile, spekuliert sie in ihrer »Tragetaschentheorie des Erzählens«, seien Beutel, Tragetücher und Taschen für das Überleben der frühen Menschen gewesen. Denn mit solchen Behältnissen konnten diese Samen, Wurzeln, Sprossen, Blätter, Nüsse, Früchte, Beeren, aber auch Insekten, gefangene Vögel, Fische, Kaninchen, Ratten oder anderes Kleingetier transportieren, die den überwiegenden Anteil des täglichen Kalorien- und Eiweißbedarfs deckten. Da solche Taschen aber aus vergänglichem Material gefertigt wurden, fand die Archäologie kaum Überreste. Erhalten geblieben sind steinerne Werkzeuge. Was die Bezeichnung »Steinzeit« nahelegte.

Da Erzählungen von der Jagd auf das Mammut oder andere gefährliche Tiere zudem mehr Action, Blut und Spannung versprechen als das Einsammeln von Früchten am Wegesrand, so die Überzeugung der Autorin, ist die literarische Überlieferung seit eh und je so voll von Geschichten über starke männliche Helden. Sie selbst fühlte sich davon gelangweilt und beschloss irgendwann, ihre Formulierungsgabe der Erfindung plausibler anderer Welten und Alternativrealitäten zu widmen. Damit wollte sie zunächst ihr eigenes Bewusstsein und dann auch das der Lesenden von der trägen Denkgewohnheit befreien, »dass unsere gegenwärtige Lebensweise die einzige Weise sei, wie Menschen leben könnten«.

Fantastische Literatur, die Le Guin bewunderte und selber schrieb, richtet den Blick auf die oft verschleierte und manchmal verdrängte Wahrheit, dass unser Zusammenleben weitaus besser organisiert werden könnte, als es derzeit der Fall ist. Und sie gibt Impulse, um den sozialen Wandel in die gewünschte Richtung vorstellbar zu machen. »Wir werden unsere eigene Ungerechtigkeit nicht erkennen«, schreibt die Autorin, »wenn wir uns Gerechtigkeit nicht vorstellen können. Wir werden nicht frei sein, wenn wir uns Freiheit nicht vorstellen können. Wir können von niemandem verlangen, nach Gerechtigkeit und Freiheit zu streben, wenn sie oder er zuvor keinerlei Möglichkeit hatte, sich diese als erreichbar vorzustellen.«

Dass sie selbst in Sachen Gesellschaftsveränderung sehr viel für möglich hielt, hat sicher auch mit der frühen Prägung durch ihr freigeistiges Elternhaus zu tun. Die Wissenschaft der Ethnologie, der sich beide Eltern verschrieben hatten, bot schon der neugierigen und entsprechend lesehungrigen Heranwachsenden viel Anschauungsmaterial dafür, dass kapitalistische Ausbeutung und staatlicher Zwang in der Vergangenheit nicht alternativlos waren und es auch in Zukunft nicht sein müssen.

»Ethnologinnen und Ethnologen«, schreibt Le Guin, »haben Gesellschaften beschrieben, die keine fixen Kommandoketten haben; in denen Macht nicht in einem starren System aus Ungleichheit eingefroren, sondern fluide ist, sich in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich verteilt und durch solche Gewaltenteilung stets Konsensentscheidungen anstrebt. Sie haben Gesellschaften beschrieben, die nicht das eine Geschlecht als überlegen klassifizieren, obwohl sie durchweg eine nach Geschlechtern differenzierte Arbeitsteilung haben und eher dazu neigen, die Unterfangen der Männer zu feiern.«

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