Skateboard statt Elterntaxi

Sportwissenschaftler Helmut Lange: Corona-Maßnahmen überfordern viele Familien in Sachen Bewegung

  • Angela Stoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Studien zufolge bewegen sich viele Kinder in Deutschland zu wenig. Hat die Coronakrise alles noch schlimmer gemacht?

Ja, vor allem die Kontaktbeschränkungen haben die Situation für alle Kinder verschlechtert. Spielplätze waren gesperrt, man durfte sich nicht mehr mit Freunden treffen, Schule und Vereinssport sind monatelang ausgefallen. Das alles deutet darauf hin, dass die aktive Bewegungszeit abgenommen hat. Aber man muss genau hinschauen. Ich habe dazu zwar noch keine Studie angefertigt, aber Vorstudien gemacht, Beobachtungen angestellt und Eltern befragt. Demnach ist bei Kindern, die ohnehin sehr bewegungsaffin sind, sogar ein Anstieg von Bewegungszeit zu beobachten. Viele Familien haben nämlich wesentlich mehr Zeit miteinander verbracht. Bei denen, die einen Garten haben, war die Draußen-Zeit deutlich höher als zu Schulzeiten.

Harald Lange
Der Sportwissenschaftler und -pädagoge rät Eltern, die Bewegungszeit der Kinder nicht mit der Stoppuhr zu messen, sondern für ein bewegungsfreundliches Umfeld zu sorgen. Er hat seit 2009 den Lehrstuhl für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg inne. Der 52-Jährige ist Gründer des dortigen Instituts für Fankultur, außerdem unterrichtet er Sportpädagogik an der Trainerakademie des Deutschen Olympischen Sportbundes in Köln. Mit Harald Lange sprach Angela Stoll. 

Man muss das Ganze differenziert betrachten?

Genau. Nicht alle Kinder bewegen sich zu wenig. Aber die Schere zwischen denen, die privilegiert und bewegungsaffin sind, und jenen, die benachteiligt sind, wird immer größer. Das ist eine Entwicklung, die wir seit Jahren beobachten. Es gibt nicht mehr dieses klassische Durchschnittskind. Meine These ist, dass sich das wegen der Coronakrise ein Stück weit verstärkt.

Es kommt also stark auf die Familien an …

Ja, die Familie ist der Schlüssel zur gesunden Ernährung, zur Bewegung, überhaupt zum gesunden Lebensstil. Kinder lernen am Vorbild der Eltern. Hier hat die Krise sehr ambivalente Auswirkungen gehabt: In manchen Familien hat sie dazu geführt, dass man mehr zusammengewachsen ist. Sie haben sich auch durch die zahlreichen Tipps und Angebote im Internet inspirieren lassen. Andere Familien waren schlicht überfordert. Das hängt natürlich unter anderem von den materiellen Voraussetzungen ab.

Was waren das für Online-Angebote?

Wir sind gerade dabei, das in einem kleinen Forschungsprojekt aufzuarbeiten. Es gab noch nie so viele Anregungen, Tipps, Ideen und Initiativen zu Bewegungsthemen im Internet. Die Palette reicht von Instagram-Accounts engagierter Eltern, die Erfahrungen teilen, über Online-Angebote von Krankenkassen und Vereinen bis hin zu professionellen Angeboten aus dem Sportsystem. Ein Musterbeispiel dafür ist die tägliche Sportstunde von Alba Berlin, einer Profi-Basketballmannschaft. Sie hat gleich zu Beginn der Coronazeit eine tägliche Sportstunde auf einem Youtube-Kanal eingerichtet und damit enorm hohe Einschaltquoten erzielt, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Das ist zukunftsträchtig.

Haben Schulen das auch erkannt?

Man muss lange suchen, bis man Angebote von Schulen in digitaler Form findet, die sich auf Sport beziehen. Ein ziemlich trauriger Befund! Der Bewegungsbereich wird nur in Ausnahmefällen berücksichtigt. Das ist ein alarmierendes Signal auch im Hinblick auf die Zukunft. Wir haben schließlich gemerkt, dass das Digitalthema wichtiger denn je sein wird.

Was können Eltern tun, um Kinder zum Sport zu animieren?

Die Krise hat gezeigt: Überall dort, wo Eltern mitmachen, ist Bewegung kein Problemthema. Wenn eine Profimannschaft eine tägliche Sportstunde anbietet und Papa und Mama auch mitmachen - das ist natürlich ein Highlight! Es wäre enorm wertvoll, wenn es uns gelänge, solche Formate in den Tagesablauf zu integrieren.

Kann man nicht die Faszination von Spielekonsolen nutzen? Zum Beispiel lassen sich an der »Wii« oder bei »Nintendo Switch« bestimmte Bewegungsabläufe simulieren.

Studien haben gezeigt, dass die sportliche Beanspruchung bei solchen Simulationen deutlich geringer ist als bei wirklichem Sport. Mit echter Bewegung hat das nichts oder nur wenig zu tun. Die Spiele sorgen aber für eine bestimmte Aktivität, und der ganze Körper wird mit einbezogen. Wenn man mal ein, zwei Stunden ein sportbezogenes Spiel an der »Wii« spielt, dann ist das für eine Grundaktivierung hervorragend. Da Kinder immer mehr Zeit mit digitalen Medien verbringen, wird das ein wichtiges Thema der Zukunft sein: Wie lässt sich ein Bezug herstellen zwischen digitaler Welt und Lebenswirklichkeit?

Viele Kinder haben in diesem Jahr die Sommerferien daheim verbracht, in den Herbstferien dürfte das wieder so sein. Wie lassen sie sich in Bewegung bringen?

Hilfreich ist schon mal alles, was rollt: Skateboard, Fahrrad, Roller. Man kann solche Fahrzeuge möglichst oft benutzen und zum Beispiel Radtouren machen, überhaupt viel in der Natur unterwegs sein. Dann kann man Schwimmbäder und Spielplätze nutzen. Es gibt in Deutschland geniale Erlebnis- und Abenteuerspielplätze, die es anzusteuern lohnt. Ansonsten ist der Spielefundus, den jede Familie hat, in den nächsten Monaten sehr wichtig.

Gemeinsam Spaß haben - ist das also das Entscheidende?

Ganz genau, das muss leicht und locker rüberkommen. Immer dann, wenn Bewegung wie ein Medikament verordnet wird, macht sie keinen Spaß mehr. Kinder bewegen sich nicht, um ihr Herz-Kreislauf-System zu aktivieren, sondern weil sie ihren Freund treffen oder einfach spielen wollen. Oder weil sie etwas mit Mama und Papa oder ihrer Mannschaft machen möchten.

Ein Klassiker ist in vielen Familien das Stichwort Spazierengehen: Für Kinder ist das oft ein Graus.

Ja, das fängt oft bei der Begrifflichkeit an. Wenn man sagt: »Wir gehen zum Spielplatz« und nicht: »Wir gehen wandern«, dann hört sich das gleich ganz anders an. Wir gehen beim Planen von solchen Unternehmungen zu sehr von der Erwachsenen-Perspektive aus. Wandern haut Kinder meist nicht vom Hocker, aber Ausflüge zu interessanten Orten zu machen, das finden sie gut und nehmen dafür auch die Laufstrecke in Kauf. Familien, die schon für das Brötchenholen morgens das Auto benutzen, haben es schwer, den Kindern zu kommunizieren: Warum gehen wir jetzt zu Fuß? Da zeigt sich das grundsätzliche Thema: Familien mit einem bewegten Lebensstil sind in Krisenzeiten ganz anders aufgestellt als Familien, die ständig das Auto nehmen. Kinder lernen nach wie vor am allermeisten von ihren Eltern und Geschwistern sowie aus ihrem direkten sozialen Umfeld.

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