Ein dunkler Kimono

Die Reporterin Lili Körber bereist 1934 den fernen Osten

  • Lesedauer: 9 Min.

Wir sind im Vergnügungsviertel Sin-Se-Kai, d. h. »die neue Welt«, voller bunten Buden mit all dem Lackspielzeug und Nippes, das hier in künstlerischer Weise hergestellt wird; es ist aber auch Kitsch, Serienware, dabei. Große Kinoplakate mit einheimischen Lieblingen - Schlitzaugen und Dauerwellen im dicken steifen Haar, daneben blonde, auf süß zurechtgemachte Gesichter amerikanischer Stars. Zu jeder Vorstellung gehört ein endloses Samuraistück, wo viel gefochten und getötet wird, und ein ausländischer Schlager, dessen Happyendkuss der Zensor streicht - Küssen ist im Fernen Osten verpönt. Lampionumkränzte Häuser - Restaurants, Teestuben. Bars und Theater, aus denen ohrenbetäubende Schlaginstrumente herauslärmen. Auch die Straßenlaternen sehen wie Lampions aus, oder besser, wie dunkelgelbe Früchte. Sie hängen traubenartig an den Stangen in so kurzen Abständen, dass man durch eine Orangenallee zu wandern meint. Lichtreklamen werfen bunte Flecke auf die hellen Seidengewänder der hübschen Musmes und auf den Asphalt. Hier gibt es weder Auto- noch Straßenbahnlärm, nur Getageklapper, echtestes Japan, bloß die europäisch gekleideten Männer stören das Bild.

Da taucht auch Häschen auf, an seiner Seite ein dunkler Kimono, darauf ein Intellektuellenkopf. »Das ist Sato, er kann russisch, übersetzt Dostojewski« stellt Häschen vor, strahlend, dass er endlich jemand aufgegabelt hat, mit dem ich mich verständigen kann. Aber der Dostojewskimann drückt mir nur stumm die Hand, stumm setzen wir uns in Bewegung, stumm bleiben wir vor einem Spielzeugladen stehen, dessen Auslagetische fast bis zur Straßenmitte reichen und Soldaten, Flugzeuge, Kanonen und Kriegsrequisiten zur Schau stellen: es kommt bald der Mai, der Monat der Kirschblüte und der männlichen Virtus, und am fünften das Knabenfest. Schon jetzt baumeln auf den Dächern große papierne Fische; überall wo ein Bub wohnt, kommt ein Fisch hin, bei knabenreichen Familien ist es ein ganzes Aquarium, das sich da oben im Frühlingswind bewegt. Die Fische symbolisieren männliche Kraft und Fruchtbarkeit. Dazu sollen sie ihren kleinen Schützlingen verhelfen, denn Kindersegen wird in Japan noch als Segen empfunden. Im März findet das Mädchenfest statt. Da werden Puppen in großen Mengen verkauft und Puppenausstellungen veranstaltet, die kleinen Mütter besuchen einander und bewundern gegenseitig ihre Babies.

Der Dostojewskimann unterbricht plötzlich sein Schweigen, um zu fragen: »Ist es gestattet, an Sie das Wort zu richten?« Er spricht ziemlich korrekt Russisch, aber mit einem drolligen Akzent, immerhin besser als Deutsche und Franzosen. Wir schlendern zum Restaurant. Unten vor der Treppe werden die Schuhe ausgezogen und tiefe Verbeugungen ausgetauscht. Dann steigen wir in den ersten Stock, aus allen Türen gucken neugierige Frauengesichter um mich, die Sensation, zu mustern. Ein Mädchen, in einer weißen Schürze über dem Kimono, begleitet uns, schiebt ein Schoji zurück, wir betreten einen netten viereckigen Raum. Um zwei niedrige, zusammengeschobene Tische sitzen junge europäisch gekleidete Männer auf Kissen - sie erheben sich auf den Strümpfen, um mir der Reihe nach ihre guttural klingenden Namen zu nennen. Häschen hat mir den Mantel bereits abgenommen, faltet ihn sorgfältig, legt ihn die Ecke auf den Boden, (d. h. auf die sauberen Matten, die niemals von einem staubigen Schuh berührt wurden), zu den europäischen und japanischen Aktentaschen der anderen Gäste. Eine japanische Aktentasche ist einfach ein buntes Tuch, in das hier alles eingeschlagen wird: Lebensmittel, Bücher, photographische Apparate, sogar Kinder, bevor sie auf den Rücken der Mutter gebunden werden. Die unsrigen enthalten vorwiegend Wörterbücher, die die Unterhaltung des Abends erleichtern sollen, und schon bringen zwei Mädchen im Kimono mit kunstvollen Frisuren den ersten Gang: grünen Tee in kleinen Schälchen und je zwei giftgrüne, radiergummiartige Bonbons.

Während ich mühsam versuche, mit Zunge und Zähnen den grünen Gummi zu bewältigen, betrachte ich den Raum; er ist von einer unaufdringlichen Gemütlichkeit, wie japanische Zimmer überhaupt. Steinwände, braun ausgemalt, mit polierten Holzbalken verziert, unten von einem weißen Hieroglyphenstreifen umsäumt, eine gemusterte Holzdecke, darüber in gleichen Abständen Bambusstämmchen. Alle japanischen Wände sind einander gleich, verraten auch nicht ihre Verwendung: ein Unterschied ist nur in der Qualität des Holzes und ihrer Ausarbeitung, in der Neuheit und Frische der Matten und der im Alkoven befindlichen Blumen und Gemälde. Auch hier gibt es keine Möbel außer zwei Tischchen und einem dritten in der Ecke. Als Beleuchtung zwei Halbkugeln aus Glas auf einer Platte, an der eine Quaste hängt; eine beige und weißgemusterte Holzschoji, große Fenster mit verschiebbaren, matten Scheiben. In einem japanischen Zimmer bedeuten die Dinge nichts, die Menschen alles. Die bunte Seide der Frauenkimonos verleihen den nackten Räumen Leben, Schönheit, ebenso die blühenden Zweige und Blumen, die niemals fehlen.

Nun kommt der zweite Gang - heiße Handtücher. Dieser Gang ist nur möglich, weil gewöhnlich keine Frauen am Bankett teilnehmen: welche Dame in Abendtoilette würde es wagen, ihr Gesicht heiß abzuwischen? Die Japanerin verwendet nicht weniger Puder und Schminke als die Europäerin, verteilt sie aber anders: nur die Unterlippe wird rot gemalt in einem reispuderweißen Gesicht, das auf einem reispuderweißen Hals ruht. Sehr tief reicht der Reispuder, doch nicht so tief, dass man nicht zuweilen im Kimonoausschnitt den Übergang zur Natur - einen gelben Streifen - erspähen könnte.

Auf jeden Fall gehe ich, die einzige Frau des heutigen Abends, direkt zum dritten Gang über - Erbsensalat, und nun beginnen die Mädchen auch schon die Hauptspeise - den Sukivaki - zu bereiten: zünden die kleinen Gasherde an, die mitten auf den Tischen stehen (unter dem Tisch läuft der Gasschlauch durch). Darauf stellen sie eine Pfanne, die sie ausgiebig mit einem Stück Speck einfetten, geben dann grüne Zwiebeln, regenwurmartiges Bohnengemüse, Zucker, Sojasauce und schließlich dünngeschnittene schwarze Fleischstücke hinein. Jeder der Gäste kriegt ein Schälchen mit einem rohen Ei, in das er die heißgebratenen Fleischstückchen eintaucht, bevor er sie verspeist. Immer neue Fleischstückchen kommen in die Pfanne. werden von den Gästen einfach mit den Essstäbchen herausgefischt, Servierbesteck gibt es nicht, ist ja auch nicht nötig, da man die Essstäbchen nicht in den Mund steckt, sondern nur die Speise bis zum Mund führt. Für je zwei von uns ist eine Hibatschi aufgestellt, die zum Wärmen der Hände und als Aschenbecher benützt wird.

Die Unterhaltung kommt in Fluss, einer der jungen Leute fragt mich, was ich von Shakespeare, ein anderer, was ich von Beethoven hielte, Sato, der Dostojewskiübersetzer, möchte meine Meinung über die neurussische Literatur kennen. Ich spreche fünf Minuten lang, bis ich endlich merke, dass er nichts kapiert, mein Wortschatz scheint sich mit dem von Dostojewski nicht zu decken, oder ist es mit ihm wie mit Mitsi, der nur Geschriebenes versteht. Alle lächeln und essen Reis mit scheußlichen sauerbitteren Wurzeln, die an Franz Josef Bitterwasser erinnern. Ich spucke sie entsetzt aus - Lächeln und zustimmendes Nicken über eine so unerhörte Ungezogenheit, wie man sie nur von einem Europäer erwarten kann: ein Japaner ist diszipliniert genug, um glühende Nadeln zu schlucken, wenn es die Höflichkeit verlangt. Deprimiert picke ich die drei weißen sauren Bohnen auf und trinke ein Schlückchen Sake. Reisschnaps, wir stoßen an mit Lächeln und Verbeugungen. Dann schreiben wir eine Karte an meine Eltern, die jungen Leute geben in verschiedenen Sprachen, sie schreiben alle besser, als sie sprechen - ihrer Freude Ausdruck, den Abend in meiner Gesellschaft zu verbringen, einer macht sogar eine schmeichelhafte Bemerkung über mein Äußeres. Sie überreichen mir eine Karte, darauf haben sie alle ihren Namen gezeichnet - zum Andenken.

Es wird immer anregender, und nun - die große Überraschung - die Tür öffnet sich, eine schöne, junge reichgeputzte Frau kniet auf der Schwelle, grüßt mit vorübergeneigten Kopf - die Geischa ist da. Und endlich sehe ich eine Japanerin, die nicht scheu ist, nicht zurückhaltend schweigt, sondern mit Männern wie mit ihresgleichen verkehrt. Sie ist etwa zwanzig Jahre alt, trägt einen schönen Seidenkimono: lila und gelbe Streifen auf weißem Grund, mit blauen Blumen bestickt, mit rosa Blumen bedruckt, im Ausschnitt ein rosa und silbergestickter Einsatz (solche Einsätze für Kimonos werden separat verkauft), dann der breite Obi (Gürtel), weißseiden, reich mit orangenfarbenen Blüten und grünen Blättern bestickt, hinten zu einer steifen Riesenschleife buckelartig anwachsend, und auch dieser, mit Papier steifgemachte Buckel ist reich bestickt. Das Haar ist kunstvoll berg- und talartig verteilt, drin glitzernde Verzierungen, wie an einem Weihnachtsbaum; auf dem Obi eine schöne, silberne, mit grünen Steinen besetzte Brosche - sie stellt einen Blumenzweig dar. Über dem Obi gucken himbeerfarbene Seidenknoten hervor - Verzierung oder Dessous? Übrigens sind die untersten Dessous der Japanerin nicht aus Seide - sie trägt ein Baumwollhemdchen; was sie sonst anhat, ist schwer zu ergründen, kein Schaufenster belehrt uns über japanische Damenwäsche.

Die zweite Geischa, die mit einer Scha-Mi-Sen (Laute) auf den Knien ins Zimmer rutscht, ist nicht so hübsch, sie ist auch älter - ungefähr 25. Ihre Kleidung ist nicht so reich. Sie trägt einen lila Kimono mit weißen, schwarzeingerahmten Tupfen bedruckt und einen mit weißen und grünen Blumen bestickten Obi. Sie setzt sich mit untergeschlagenen Beinen und legt die Laute zurecht - es ist das älteste Volksinstrument, das, wie so viele andere Kulturgüter, aus China stammt. Sie spielt auf den drei Saiten mit einer elfenbeinernen Schaufel. Und die Junge, »Wohlgeruch eines Storches« genannt, steckt ihr Kimono auf, so dass man die grünseidenen Aufschläge und die rot- und weißseidenen Unterröcke sieht, und beginnt zu tanzen - oder besser gesagt zu tänzeln. Ihre Füße in den festanliegenden weißen Tawis sind ein wenig nach einwärts gestellt, wie bei den Japanern überhaupt. Zuweilen klatscht sie lässig in die Hände und bewegt die Arme, die Ärmel des Kimonos flattern dabei wie zwei große Flügel. Keine Leidenschaft durchglüht die stilisierten Posen, keine Bewegung verändert das Photographenlächeln des jungen Mädchens. Zum Schluss singt sie tanzend eine eigentümliche Weise und alle klatschen im Rhythmus in die Hände, so ruhig und gemessen, als erfüllten sie eine ernste Aufgabe. Dann erhebt sich ein Gast von seinem Kissen - es ist der Dozent und fordert die Geischa zum Tanz auf, sie tanzen auf Strümpfen einen Onestep, von den orientalischen Melodien des Scha-Mi-Sen begleitet …

Lili Körber:
Begegnungen im Fernen Osten

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