Von der Bonität zum Bankrott

Jörg Roeslers »Abgewrackt« ist ein Kompendium an Einsichten und Erinnerungen über die rabiate Abwicklung der DDR-Wirtschaft

Bischofferode ist mehr als ein Ortsname. Jörg Roesler adelt das Kaliwerk »Thomas Müntzer« als »widerständigsten Betrieb« der verschwundenen DDR. Im Mai 1993 sorgten die Kumpel des kleinen Ortes im Eichsfeld für Schlagzeilen in in- und ausländischer Presse. Sie machten ihrer Empörung Luft über die beabsichtigte Schließung ihres Schachtes auch in Berlin vor dem Treuhandgebäude, zwangen deren Präsidentin Birgit Breuel, vor die Tür zu treten. »Da haben wir ihr unseren Empfang bereitet - eine Menge Eier ans Gebäude gefeuert«, erinnerte sich ein Mitglied des Betriebsrates später.

Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler, ein Schüler von Jürgen Kuczynski, Nestor der DDR-Wirtschaftswissenschaften, hat sich nie damit begnügt, gewesene Ereignisse und Entwicklungen zu beschreiben und zu analysieren. Aufmerksam verfolgte er stets auch zeitgenössische Um- und Auf- sowie Abbrüche, nicht nur in Deutschland, auch anderswo, etwa in Lateinamerika. Der gebürtige Berliner, jahrzehntelang Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR und hernach Gastprofessor an Universitäten in Montreal und Toronto sowie an der Portland State University in den USA, hat in seiner Profession internationalen Ruf.

Zu seinem 80. Geburtstag am heutigen Mittwoch schenken ihm seine Professorenkollegen Thomas Kuczynski und Georg Fülberth einen Band mit einer Auswahl seiner Artikel und Aufsätze zum letzten Jahr der DDR und den tiefgreifenden Wandlungen in Ostdeutschland nach deren Beitritt zur Bundesrepublik, darunter nicht wenige, die in dieser Zeitung erschienen sind. Entstanden ist ein kompaktes Geschichtsbuch, das die letzten drei Dezennien reflektiert, ein Kompendium und Kaleidoskop von Erkenntnissen, Einsichten, Anregungen und Argumenten. Eine lohnende Lektüre.

Darin Einblicke in die zwischen Routine und Resignation schwankende, teils hilfs- und ratlose Wirtschaftspolitik des SED-Politbüros 1989, das wie so oft in Jahrzehnten zuvor in (was freilich nicht des Wissenschaftlers Wortwahl ist, aber indirekt durchscheint) selbstherrlicher Arroganz die Empfehlungen der Experten ignorierte. Es folgen eine akribische Auflistung und Abwägung der Auslandsversschuldung der DDR-Wirtschaft und ihrer Betriebe, die im Fazit münden, dass sie nicht total pleite, wie gern kolportiert, sondern deren Bonität unverändert hoch war. Das wussten sehr wohl auch westdeutsche Manager und Wirtschaftslenker, die sich zunächst gar eher an Kooperation denn rücksichtsloser Übernahme respektive Abwicklung ostdeutscher Unternehmen orientierten. Über die sich jedoch, in Politbüromanier, Kanzler Helmut Kohl hinwegsetzte mit seinem Zehn-Punkte-Programm von Ende November ’89 und der »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« im Juni des folgenden Jahres. Einheitsjubel wich Existenzangst, Arbeitsplatzverlust glich Wohlstandsgewinn kaum oder gar nicht aus.

Eingehend diskutiert Roesler das Liquidierungsinstrument Treuhand, exakter: die zweite, von Bundesfinanzminister Theo Waigel bestimmte, die - anders als die erste unter der Regierung Hans Modrow gegründete - bundesdeutschen Firmen die Möglichkeit eröffnete, Volkseigene Betriebe aufzukaufen, ohne auf die Forderungen und Wünsche der ostdeutschen Betriebsleitungen und Belegschaften eingehen zu müssen. Mit der Ermordung von Detlev Karsten Rohwedder, des ersten Chefs der zweiten Treuhand, am 1. April 1991 war dem ruchlosen Ansinnen Tür und Tor geöffnet. Unter Breuel wurden nicht nur für ’nen Appel und ’n Ei durchaus lukrative Betriebe verscherbelt, sondern auch deren ostdeutsches Führungspersonal durch westdeutsches ersetzt. Zugleich, so Roesler, verringerte sich rasant der Prozentsatz Ostdeutscher in verantwortlichen Funktionen in der Zentrale und in den regionalen Niederlassungen der Treuhandanstalt; innerhalb weniger Monate war der Treuhandvorstand »Ossi«-frei».

Diese wie jene wurden entweder unter dem Vorwand/Vorwurf «fachlicher Inkompetenz» oder «politischer Belastungen» zum Abtritt genötigt. Vielfach wurde die Stasi-Keule geschwungen. Mit perfiden Drohbriefen wurde Karl Döring, der letzte Kombinatsdirektor, samt seiner Leitungsmannschaft bei der EKO Stahl AG zum Ausscheiden genötigt. In den Schmuddelbriefen hieß es: «Erste und letzte Warnung. Wenn Sie nicht sofort und unwiderruflich Ihre Ämter niederlegen, werden Ihre SED- und Stasi-Tätigkeiten in bekannten deutschen Tages- und Wochenzeitungen veröffentlicht. Sollten Sie diese Warnung nicht ernst nehmen, so haben Sie mit persönlichen und politischen Konsequenzen zu rechnen!»

Betroffen war auch massivst die ostdeutsche Landwirtschaft, deren LPG-Bauern mit Verkippung von Milch protestierten. Als ein jüngeres Beispiel für Übernahme, Ausplünderung und Abstoßung führt Roesler den in Görlitz, Bautzen und Hennigsdorf beheimateten Lokomotiv- und Waggonbau der DDR an: von der Vorzeigebranche über Konzernanhängsel zum Aus dank «Bombardier». Als Ausrede diente den kanadischen Bossen die sattsam bekannte Formel, Unternehmen aus der DDR seien halt partout nicht auf internationale Wettbewerbsfähigkeit zu trimmen. Dagegen allein schon spricht die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel, Carl Zeiss Jena, hier ebenfalls bedacht.

Im Nachwort zum Jubiläumsband schreibt Fülberth, ungeachtet des unbefriedigenden Ausgangs des Kampfes für den Erhalt des Bergwerks habe der Name Bischofferode Eingang in die deutsche Geschichte gefunden: «Der Name wird immer dann fallen, wenn behauptet wird, die Ostdeutschen hätten um der D-Mark willen klaglos alles aufgegeben, was nicht in die Bundesrepublik passte.» Als hervorhebenswert empfindet es der Marburger Linke zudem, dass Roesler nicht vor Kritik an PDS und Bündnis 90 wegen unzureichender Unterstützung der damaligen Protestbewegungen wie auch der westdeutschen Gewerkschaften zurückscheut. An Letzteren rächte sich übrigens die ausgebliebene Solidarität.

Jörg Roesler: Abgewrackt. Die Wirtschaft der DDR. Vvon der Krise zur Liquidierung. Gesammelte Aufsätze. PapyRossa, 251 S., br., 16,90 €.

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