Inschallah, möge es ein Weckruf sein

Tima Kurdi berichtet über das tragische Schicksal ihres Neffen Alan, dem »Jungen am Strand«

Mit dem Foto eines halb verhungerten sudanesischen Kindes, das vor Entkräftung zusammenbricht und auf dessen Tod ein gieriger Geier wartet, gewann der südafrikanische Fotojournalist Kevin Carter 1994 den renommierten Pulitzer-Preis; noch im selben Jahr beging er Suizid. Selbst Vater eines kleinen Mädchens, ist er an der eigenen, erschütternden Aufnahme seelisch zerbrochen.

»Ich konnte nicht mehr. Kein einziges Foto hätte ich an diesem Tag noch machen können. Ich zitterte am ganzen Leib. Mir stiegen Tränen in die Augen«, erzählte mir der ehemalige südvietnamesische Kriegsfotograf Nick Út, der 1972 das Foto des vor einem Napalmangriff fliehenden Mädchens aus dem Dorf Trang Bàng schoss, für das auch er den Pulitzer-Preis erhielt. »Ihr ganzer Rücken war verbrannt, die Haut hing in Fetzen herab. ›Oh, my God, oh, my God‹, dachte ich nur. ›Das Mädchen stirbt.‹« Einen Monat vor unserem Gespräch hatte seine türkische Kollegin Nilüfer Demir einen kleinen Buben im roten T-Shirt und blauen Hosen am Strand von Bodrum »entdeckt«. Es schien, als schliefe er. Doch er war tot. Ertrunken im Mittelmeer. Auch diese Aufnahme ging um die Welt, in sozialen Netzwerken wurde sie zigtausendfach unter dem Hashtag KiyiyaVuranInsanlik - »Menschheit an die Küste gespült« - geteilt.

Der zweijährige Knabe hieß Alan Kurdi. Seine Eltern hatten versucht, dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat Syrien zu entfliehen, über die Türkei nach Griechenland. Alan, sein wenig älterer Bruder Ghalib sowie deren Mutter Rehanna starben am 2. September 2015 auf stürmischer See. Wie das Foto vom Kind und dem Geier Hungersnot geißelte, Kim Phuc zur Anklage des mörderischen Vietnamkrieges avancierte, so wurde der an den Strand getriebene Alan Kurdi zum Symbol für die gnadenlose Abschottungspolitik der EU gegenüber vor Krieg und Armut flüchtenden Menschen. Seit 2014 wurde laut UNO das gern verklärte Mare Nostrum für 20 000 in Europa Zuflucht Suchende zum Grab.

Alans Tante, Tima Kurdi, hat nun eine Hommage an ihre ums Leben gekommenen, exakter: ermordeten Verwandten verfasst, ein einfühlsames und ergreifendes Buch. Das Geleitwort steuerte Gorden Isler bei, Vorsitzender der Regensburger Hilfsorganisation Sea-Eye. Er war vor fünf Jahren 33 Jahre alt und gerade Vater geworden. Alan Kurdis »Schicksal« führte ihn zur Seenotrettung, zunächst bei Lifeboat. Als er später ein Schiff erwarb, stand für ihn fest, es sollte an den kleinen syrischen Jungen erinnern, »dessen Tod das Leben von so vielen Menschen berührt und von einigen auch verändert hat«. Alans Vater, Abdullah Kurdi, und dessen Schwester Tima waren bei der Taufe dabei; das zweite Sea-Eye-Rettungsschiff wurde dann nach Ghalib benannt.

Tima Kurdi begann mit den Recherchen zu ihrem Buch im August 2016, einen Monat vor dem Jahrestag der Tragödie. Ihr Bruder Abdullah lag noch auf der Intensivstation eines türkischen Krankenhauses: »Sein Leben hing am seidenen Faden. Oft fiel er ins Delirium, rief seine Frau und seine Söhne.« Sie erinnert sich an die Short Messages, die sie mit ihrem Bruder getauscht hatte, als dieser noch mit seiner Familie an türkischer Küste tagelang hoffte, endlich nach Kos übersetzen zu können, jene griechische Insel, die für Tausende syrische Flüchtlinge als ein Sprungbrett nach Europa und Hoffnung auf eine bessere Zukunft galt. Nur vier Kilometer trennten Abdullah und seine Familie von Kos. Und dennoch: »Unbesorgt sein - das war unmöglich«, so Tima Kurdi.

Vor den Terrorgruppen, die Syrien fest im Griff hatten, hatte sich Abdullah Kurdi mit den Seinen, »verarmt und illegal durch etliche Gefahrenzonen« bis nach Istanbul durchgeschlagen, »wo sie jedoch kaum genügend zu Essen hatten und nur mit Mühe ein Dach über dem Kopf fanden. Immerhin: Sie waren am Leben, trotz der Gleichgültigkeit der vielen Regierungen, die ihre Grenzen dichtgemacht hatten.« Tima Kurdi hat sie in der Stadt am Bosporus mehrfach besucht. Sie hadert noch heute mit sich, das Geld zusammengespart zu haben, das ihr Bruder zur Bezahlung der Schlepper benötigte. Hätte sie es nicht aufgebracht, wären sie noch am Leben?

Ihr Rückblick auf Syrien vor dem Bürgerkrieg liest sich wie eine Reminiszenz an ein verlorenes Paradies. Die 1970 geborene Fatima, kurz Tima genannt, wuchs in einer Mittelschichtfamilie auf: »Wir waren nicht reich, doch wir litten keinen Hunger. Wenn sich die Familie vergrößerte, bauten meine Eltern um, bis für alle Platz war.« Sie weiß noch, wie sie sich über ihr 1976 geborenes Brüderchen Abdullah freute, »ein süßes, zufriedenes Kind, wach immer lächelnd oder wie ein Engel schlafend«. Syrien war damals ein säkulares Land, berichtet sie: »Nur wenige Frauen verschleierten ihr Gesicht.«

1992 wurde Fatima mit einem in Kanada lebenden Kurden verheiratet, nicht gegen ihren Willen. Im Jahr darauf kommt ihr erster Sohn zur Welt, den sie Alan nennt, »nach dem Alana-Tal, der alten Heimat meines Mannes«, im kurdischen Teil des Iraks. Die Ehe hält nicht lange. Tima muss sich im Armenviertel von East Vancouver als Alleinerziehende durchschlagen, findet aber wieder Kontakt zu ihrer Familie in Syrien, zu der die Beziehung nach der Hochzeit getrübt war. Bei einem Besuch in Damaskus im April 2011 lernt sie ihre Schwägerin Rehanna kennen.

In eben jenem Jahr erfasst der sogenannte Arabische Frühling auch Syrien. »Es gab Proteste gegen die Regierung. In Daraa wurden mehrere Jugendliche festgenommen, die Parolen gegen das Regime an Hauswände gesprüht hatten.« Die Unruhen greifen auf Homs und Hama über, dann auf das ganze Land. »Einige Leute forderten Wirtschaftsreformen. Anderen ging es eher um politische Erneuerung und demokratische Wahlen.« Tima und die Ihren sind besorgt. Syrien versinkt in einem blutigen Bürgerkrieg. »Hunderte verschiedener Rebellengruppen kontrollierten Städte und Dörfer und kämpften gegen Assads Truppen. Einige Gebiete nannten sie ›befreit‹. Das sollte heißen ›frei vom Regime‹. Faktisch bedeutete es jedoch häufig, ›frei‹ von Lebensmitteln, Wasser, Strom, Schulen, Krankenhäusern und Schutzräumen. Die Frauen in den Städten, in denen nun die Kleidungsvorschriften des IS galten, waren ›befreit‹ von der Freiheit, ohne den Gesichtsschleier Khimar und die knöchellange Abaya aus dem Haus gehen zu dürfen.«

Schiiten, Alawiten, Kurden, Armenier und andere ethnischen oder religiösen Gruppen waren »frei« vom Recht, ihr kulturelles Vermächtnis und ihren Glauben zu pflegen. Säkulare oder ethnisch und religiös tolerante sunnitische Muslime mussten ihren liberalen Idealen abschwören. Tima Kurdis Ausführungen und Anklagen dürften nachträglich manch westliche, blindlings gegen Assad eifernde Kommentatoren beschämen.

Die Autorin verhehlt auch nicht ihr Unbehangen darüber, dass das Foto ihres toten Neffen im kanadischen Wahlkampf instrumentalisiert wurde. Jahre zuvor hatte sie erfolglos versucht, Einreisepapiere für ihre Geschwister und deren Familien nach Kanada zu erhalten. Tima Kurdi prangert an: »Die Flüchtlinge waren Opfer des Terrors und der globalen Geopolitik. Dennoch betrachtete man sie zunehmend mit der gleichen Skepsis und Feindseligkeit wie die Terroristen, vor denen sie verzweifelt flohen und denen sie selbst nur knapp entkommen waren.« Und auch diese, ihre Entrüstung ist verständlich: »Ist es nicht fahrlässig, das Bild eines toten Kindes zu veröffentlichen, bevor man weiß, ob seine Familie überhaupt davon Kenntnis hat?« Sie bekundet offen: »Das Bild brach mir und meiner Familie das Herz.« Dennoch ließ sie sich nicht von ihrer Trauer, ihrem Schmerz überwältigen, wurde aktiv: »Ich wollte, dass die Welt verstand, wie und warum Rehanna, Alan und Ghalib ertrunken und Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt an einen Strand gespült worden waren.« Gemeinsam mit dem Bruder gründete sie die Kurdi Foundation; sie ist inzwischen eine anerkannte Sprecherin für die Rechte von Flüchtlingen.

Das Buch von Tima Kurdi sollten möglichst viele Menschen lesen. Es dürfte niemanden unberührt lassen. Die Autorin zitiert ihren Bruder, der nach der Identifizierung seiner Frau Rehanna und seines Sohnes Ghalib in einem Leichenschauhaus, »übersät von Kratzern und blauen Flecken von Felsen und Stein«, und nachdem das Foto von Alan um den Globus gegangen war, zu ihr sagte: »Inschallah wird es ein Weckruf für die Welt sein ... Schon viel zu viele sind gestorben. Die Welt muss das Leiden der Flüchtlinge zur Kenntnis nehmen.«

Tima Kurdi: Der Junge am Strand: Die Geschichte einer Familie auf der Flucht. Übersetzt von Lilian-Astrid Geese. Assoziation A, 248 S., geb., 19,80 €.

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