Lob der Partei

Wie zusammen kämpfen? Über Freunde und Genossen.

  • Thomas Zimmermann
  • Lesedauer: 5 Min.

In der SPD erhält man wohl in sanfter Erinnerung an die kämpferischen Tage der Partei bis heute den Brauch aufrecht, sich als »Genossinnen und Genossen« anzureden. Man darf unterstellen, dass diese Sitte in weiten Teilen insbesondere der parteilosen Linken mit einigem Schmunzeln aufgenommen wird. Wer hingegen seine Bekannten vom Stammtisch oder Lesekreis ganz ohne Ironie als Genossen bezeichnet, wird schnell einer verschrobenen Revolutionsromantik verdächtigt: Die Parteidisziplin vergangener Zeiten sei nichts, zu dem man sich zurücksehnen sollte.

Dass das Belächeln dieser ehrwürdigen Anredeformel sozialistischer Organisationen ebenso fehlgeht wie ihre rein nostalgische Verwendung, zeigt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Jodi Dean in ihrem Buchessay »Genossen!«, der diesen Herbst in deutscher Übersetzung im Verlag Klaus Wagenbach erschienen ist: Die genossenschaftliche Disziplin sei nur die Kehrseite des revolutionären Elans, dessen Verlust gewiss keinen Grund zur Freude darstellt.

Welche Beziehungsweise die richtige ist, um die Menschen zu verknüpfen, die dem Kapitalismus an den Kragen wollen, wurde in den vergangenen Jahren immer wieder thematisiert. So hat etwa das Unsichtbare Komitee 2014 mit seinem Pamphlet »An unsere Freunde« das Argument vorgebracht, die kleinteilige politische Organisation im unmittelbaren Lebens- und Arbeitsumfeld wäre die unserer Epoche dezentraler Netzwerke entsprechende - der Aufbau von Massenorganisationen hingegen sei unzeitgemäß.

Zwar verwendet auch das Unsichtbare Komitee den Begriff des Genossen, doch wenn dann von »unserer Partei« die Rede ist, dann ist das so zu verstehen, wie es Marx und Engels 1848 im »Manifest der Kommunistischen Partei« meinten: Nicht als Bezeichnung einer expliziten Organisation, sondern der radikalsten Tendenz innerhalb der proletarischen Bewegung. Wenn hingegen Jodi Dean »Partei« sagt, dann tut sie das ganz unverblümt im Sinne der kommunistischen Kaderorganisationen des 20. Jahrhunderts. Entgegen der verbreiteten Ansicht, diese Organisationsform sei antiquiert oder gar ein historischer Fehlgriff der Linken gewesen, zeigt die Autorin, dass die Partei nicht an sich etwas Schlechtes ist, sondern dass man Partei richtig oder falsch machen kann.

Das Herzstück von »Genossen!« erzählt von einem solchen Fall richtig gemachter Partei. Darin wird eine Episode aus der Geschichte der Kommunistischen Partei der USA von 1931 wiedergegeben, in der sich ein Mitglied vor einem Parteigericht dafür verantworten musste, einen Genossen in einem Fall von offenem Rassismus im Stich gelassen zu haben. Anklage und Verteidigung des in die USA ausgewanderten finnischen Genossen August Jokinen diskutierten in der Folge jedoch nicht die Frage der Schuld - diese hatte der Angeklagte bereits eingestanden -, sondern vor allem, wie der Fall vor dem Hintergrund des sozialistischen Projekts einzuordnen sei und was dieses individuelle Versagen für die Partei bedeute.

Die Anklage betonte, dass Jokinen durch sein Versäumnis, den Antirassismus der Partei in die Tat umzusetzen, der Einheit der multiethnischen Arbeiterklasse und somit dem Projekt des Sozialismus geschadet habe. Sie plädierte dafür, den Angeklagten aus der Partei auszuschließen, ihm jedoch die Möglichkeit zu geben, wieder in sie einzutreten, nachdem er sein antirassistisches Engagement durch Mithilfe im Vertrieb einer Zeitung der schwarzen Befreiungsbewegung praktisch unter Beweis gestellt habe. Nicht der Arbeiter Jokinen sei der Feind des Sozialismus, sondern der Rassist in ihm - und sofern es ihm gelänge, seinen eigenen Rassismus zu besiegen, sollte er auch wieder Teil des sozialistischen Kampfes werden. Denn für das Gelingen der Revolution sei jeder einzelne Arbeiter unverzichtbar.

Auf der anderen Seite versuchte die Verteidigung nicht etwa, Jokinens Fehlverhalten in Abrede zu stellen, sondern nahm die Partei selbst in die Verantwortung: Dass das Denken des Genossen von Vorurteilen beherrscht sei, würde bedeuten, dass die Partei in ihrer antirassistischen Aufklärungsarbeit versagt habe. Aus dieser Mitschuld dürfe sie sich nun nicht herauswinden, indem sie allein dem Angeklagten Selbstkritik verordne - auch sie selbst müsse Selbstkritik üben und ihre Praxis parteiinterner politischer Bildung überdenken.

Wer mit den heute wieder alle naselang auftretenden Kontroversen um rassistische oder anderweitig diskriminierende Aussagen aus den Mündern vermeintlich aufgeklärter Einzelpersonen vertraut ist, findet in der Grundanlage dieser Geschichte viel Bekanntes wieder - in ihren Konsequenzen aber wirkt sie fast wie aus einer anderen Welt. Dass dergleichen Fehlverhalten für leidenschaftliche Anklagereden zum Anlass genommen wird, ist heute nicht viel anders als damals - dass sich die klagende Instanz auch selbst mit in die Verantwortung nimmt, ist hingegen praktisch unbekannt.

Das liegt aber wiederum nicht in erster Linie an persönlichen Schwächen der individuellen Kläger, sondern daran, dass die kleine linke Bubble und der größere linksliberale Mainstream eben keine gut gemachten sozialistischen Parteien im Sinne Jodi Deans sind. Wenn sich etwa eine Freundin oder ein Autor als problematisch herausstellt, so entfällt auf den Freundeskreis beziehungsweise die Redaktion keine Schuld als die, sich in der jeweiligen Person getäuscht zu haben. Es gibt keine Disziplin, die vorschreibt, anstelle der einfachen Lösungen, also entweder wegzusehen oder die Person auszuschließen, sich die schwierigere Aufgabe aufzubürden, nämlich sie eines Besseren zu überzeugen.

Das hat mit Grundsätzlichem zu tun: Wir leben in einer Gesellschaft, in der jeder Einzelne von uns entbehrlich ist. Davon ist auch das linke Twitter nicht ausgenommen, dessen Funktionieren in keiner Weise gefährdet ist, wenn der eine oder andere ehemalige Online-Genosse auf Nimmerwiedersehen aus der Bubble ausgesondert wird. Einige würden sogar behaupten, dass die Szene genau von solchen Ausschlüssen lebt - so ähnlich wie eine sozialistische Partei, wenn sie nicht richtig funktioniert.

Die gut gemachte Partei, so das Argument von Jodi Dean, ist nicht deshalb die richtige politische Form, weil sie unserem Zeitalter formal entspricht, sondern im Gegenteil gerade weil sie unzeitgemäß ist - weil sie das verkörpert, was uns fehlt: Zusammenhänge, in denen wir unentbehrlich sind und uns als Teil eines größeren Ganzen begreifen können, das zwar mitunter hohe Ansprüche an uns richtet, uns im Gegenzug aber nicht gleich verstößt, wenn wir ihnen nicht gerecht werden. In einem Wort: Zusammenhänge, in denen wir Genossen sind.

Jodi Dean: Genossen! Aus dem Englischen von Andreas G. Förster. Verlag Klaus Wagenbach, 176 S., br., 18 €

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