Bloß nicht alles auf eine Karte setzen

Kurt Stenger über falsche Vorschläge am Anfang der Corona-Impfkampagne

Erinnern Sie sich noch an das vermeintliche Wundermittel Tamiflu? Als 2006 die Furcht vor einer Vogelgrippe-Pandemie grassierte, legten viele Staaten große Vorräte des Medikaments des Schweizer Konzerns Roche an. Jahre später stellte sich heraus, dass Daten zu Wirksamkeit und Nebenwirkungen geschönt gewesen waren, und der Neuraminidase-Hemmer erwies sich als fast nutzlos.

Es ist zu hoffen, dass sich so etwas bei den Corona-Impfstoffen nicht wiederholt. Sicher kann man den Herstellern nicht unlautere Mittel unterstellen. Aber die Frage der Wirksamkeit und Nebenwirkungen wird sich trotz der teils sehr guten Ergebnisse klinischer Studien erst im Laufe der Zeit herausstellen. Das gilt gerade für den völlig neuartigen mRNA-Impfstoff von Biontech/Pfizer. Unklar ist zudem, ob die erhoffte Immunität langfristig ist oder ob wie bei der Grippe jährlich neu gestochen werden muss.

Das Tamiflu-Beispiel sollte eines lehren: niemals alles auf das erstbeste Mittel setzen! Insofern ist die Kritik in Deutschland an der EU-Beschaffungsstrategie nur Vorwahlkampfgetöse. Frankreich drängte darauf, mehrgleisig zu fahren, und die Osteuropäer interessieren sich mehr für günstige herkömmliche Impfstoffe. Das war sicher richtig, denn niemand konnte im Vorfeld wissen, wie schnell und ob überhaupt Biontech/Pfizer die Zulassung bekommen würden. Deren Spritzen-Produkt in Riesenmengen zu bestellen, hätte eher einem Tanz auf der Rasierklinge geglichen. Berechtigt ist hingegen die Kritik an Regierungen in Bund und Ländern, keine Impfstrategie für Altersheime ausgearbeitet zu haben, was jetzt zu Verzögerungen führt.

Aber könnte nicht die Produktion hochgefahren werden? FDP-Chef Christian Lindner forderte, die Regierung solle mit der Pharmaindustrie eine Lizenzproduktion vereinbaren. Auch dies würde bedeuten, alles auf »BNT162b« von Biontech zu setzen. Bei den nächsten Kandidaten liegen die Lizenzen im Ausland; sie kämen also nicht infrage. Außerdem geht es hier nicht um das Nähen von Masken, sondern um ein hochkomplexes Verfahren. Da das Produkt neuartig ist, wäre kaum ein Unternehmen in der Lage, den Impfstoff in guter Qualität herzustellen. Auch würde die Umrüstung dauern: Biontech selbst hat ein Werk in Marburg gekauft – die Produktion beginnt nicht vor Februar. Bis dahin gibt es längst weitere Impfstoffe.

Noch schlimmer machen würde es die zugespitzte Forderung nach einer »Kriegswirtschaft« unter staatlicher Regie. Das ginge noch mehr zulasten der Qualität, würde künftige Forschung abschrecken und den fatalen Trend zu Impfnationalismus zulasten des globalen Südens noch verschärfen. Es braucht aber eine weltweite Verteilung unter WHO-Regie. Das Skandalisieren einer Knappheit in Deutschland ist daher Jammern auf hohem Niveau. Die Lage entspannen, ohne anderen etwas wegzunehmen, könnte hingegen das medizinisch problemlose Hinausschieben der nötigen Zweitimpfung.

Gerade Infektiologen gehen davon aus, dass sich frühestens Mitte des Jahres die Lage entspannt – wenn viele Impfstoffe und zwar unterschiedlichster Art zugelassen sind. Das hätte einerseits den Vorteil, dass das Mengenproblem in den Hintergrund tritt. Andererseits wird sich im Laufe der Zeit herausstellen, ob bei bestimmten Bevölkerungsgruppen bestimmte Mittel wirksamer und verträglicher sind als andere.

Es gibt auch ein wirtschaftliches Argument: Je mehr Alternativen vorliegen, umso weniger können Firmen abkassieren. Da Hunderte Mittel in der Entwicklung sind, gab es nie Versuche, Mondpreise durchzusetzen, die die Branche in früheren Jahren in Verruf gebracht hatten. Jetzt wittert man die Chance, das Image aufzupolieren. Zudem konnte die EU mit der mehrgleisigen Strategie günstigere Preise bei Biontech aushandeln als die USA – wohl auch dank der Forschungszuschüsse des Bundes an das Unternehmen. Allerdings können kleine spezialisierte Biotechfirmen keine Kampfpreise anbieten wie der AstraZeneca-Konzern mit 23,5 Milliarden Dollar Jahresumsatz und Zig-Produkten.

Die durch Corona verstärkte Aufmerksamkeit sollte nicht zu Kurzschlusshandlungen führen, sondern dauerhafte Veränderungen bringen. Wie im Strom- und Bahnbereich könnte eine Regulierungsbehörde die bisher nebulöse Preisplanung der Pharmaindustrie kontrollieren. Schließlich bleibt auch Gesundheit ein öffentliches Gut – selbst wenn Privatfirmen daran mitverdienen.

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