Verhaftungswelle in der Neonaziszene

Das russische Ermittlungskomitee lässt sechs Rechtsradikale festnehmen und nach weiteren fahnden

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 3 Min.

Im Mai 2021 hätte er das Gefängnis verlassen können. Maxim Martsinkewitsch, Spitzname »Tesak«, einer der bekanntesten Neonazis Russlands, verbüßte seine bereits dritte Haftstrafe wegen Volksverhetzung. Doch am 16. September fand man den 36-Jährigen in seiner Zelle in Tscheljabinsk aufgehängt, mit aufgeschlitzten Adern. »Selbstmord«, lautete offizielle Version, die seitens vieler, nicht nur nationalistischer Oppositioneller bestritten wird. Laut seinem Anwalt klagte »Tesak« in seinen letzten Monaten über Folter. Während mehrere Tausend Rechtsradikale ihn auf dem letzten Weg begleiteten, machte eine weitere Sensation die Runde: Das Ermittlungskomitee, eine direkt dem Präsidenten unterstellte Strafverfolgungsbehörde, erklärte, der Verstorbene habe kurz vor seinem Selbstmord mehrere Morde gestanden, die er seit seinem 19. Lebensjahr in Moskau verübt haben soll.

Drei Monate später folgten daraus nun Konsequenzen - am 24. Dezember meldete der Inlandsgeheimdienst FSB die Verhaftung von sechs ehemaligen Mitstreitern von Martsinkewitsch in Moskau, Sotschi und Tjumen; fünf weitere Haftbefehle sind ausgestellt. Den Verhafteten werden Morde an zwei Personen »nichtslawischen Aussehens« im Jahr 2007 vorgeworfen. Besonders hervorgehoben wird die Rolle von Semen Tokmakow, Spitzname »Bus« - bei der Verhaftung leistete er bewaffneten Widerstand, gestand jedoch als erster seine Mittäterschaft an den Morden. Der 1975 geborene Tokmakow galt als Mentor von Martsinkewitsch. 1998 gelangte der Moskauer Skinhead Tokmakow zu Bekanntheit, als er mit seinen Freunden einen afroamerikanischen Wächter der US-Botschaft überfiel und dadurch in nationalistischen Kreisen zu einem Helden wurde. Zuerst in der kleinen Volksnationalen Partei (NNP) aktiv, gründete er die militante Jugendgruppe »Russisches Ziel«, in der Martsinkewitsch seinen politischen Aufstieg begann. Tokmakow setzte von Anfang an auf mediale Wirkung. Gern erzählte er den Journalisten Geschichten über die realen und angeblichen Erfolge militanter Nationalisten.

2005 gründete Martsinkewitsch die Gruppe »Format 18«, die bis zu ihrem Verbot 2010 immer wieder Videos von Überfällen und »Hinrichtungen« von Arbeitsmigranten, Obdachlosen, vermeintlichen Drogendealern und Pädophilen veröffentlichte. Später erklärte die Gruppe, die Videos zeigten »nachgestellte Szenen«, was in einigen Fällen auch nachgewiesen werden konnte. Die Frage, ob »Format 18« auch reale Schlägereien, Überfälle und Morde filmte, blieb offen. Enge Kontakte unterhielt man auch zur 2004 bis 2010 bestehenden Organisation »Nationalsozialistische Gemeinschaft« (NSO), deren Tätigkeit mit einem Verbot endete.

Am 28. Februar 2007 kam es zu einer der bekanntesten öffentlichen Aktionen von Martsinkewitsch. Mit seinen Anhängern stürmte er eine Diskussionsveranstaltung im Moskauer Buchladen »Bilingwa«. Das Gespräch der Journalistin Julia Latynina mit dem damaligen Mitglied der sozialliberalen Jabloko-Partei Alexej Nawalny unterbrach »Tesak« mit Sieg-Heil-Rufen und der Ankündigung, er werde weiterhin »Tadschiken, Neger und Liberale töten«. Damals beschränkte sich die herbeigerufene Polizei darauf, die Personalien der Störer zu kontrollieren. Doch Nawalny erstattete eine Anzeige, auf deren Grundlage Martsinkewitsch von einem Polizeispezialkommando vier Monate später festgenommen wurde. Weitere Anzeigen bescherten »Tesak« seinen ersten längeren Gefängnisaufenthalt, auch wenn Nawalny selber die Strafe als zu hart beurteilte.

Die mit der Verurteilung einhergehende breite Bekanntheit in der Öffentlichkeit wusste Martsinkewitsch auf verschiedene Weise einzusetzen. 2010 versuchte er sich mit einer Kandidatur zum Koordinationsrat der Opposition, angeblich nicht ohne Unterstützung der kremlnahen Jugendorganisation. 2011 gründete er die Initiative »Occupy-Pedofiljaj«, die sich das Aufspüren und öffentliche Bloßstellen von Pädophilen zum Ziel setzte. Der Regisseur Ilja Chrschanowski gab ihm eine Rolle in seinem Art-House-Filmprojekt »Dau«. Während seines letzten Gefängnisaufenthalts hat sich »Tesak« angeblich vom Nationalsozialismus distanziert und Positionen des Libertarismus angenähert, ohne jedoch von seinen rassistischen Ansichten abzurücken.

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