Es lebe die Vogelscheuche!
Zum Tod des Schriftstellers und Dramaturgen Armin Stolper
Auffällig sein wollte er nur gemeinsam - mit Könnern ohne Aufputz. Wesensstark sein nur mit Leuten, die kein Wesen um sich machen. Belehrer war er in Verborgenheit, am deutlichsten im Leiseton. Als beratender Diener am fremden Kunstwerk trumpfte er so auf, dass seine Beiläufigkeit selber zum Kunststück werden konnte. Aber ist einer ein gebürtiger Schlesier wie er, so weiß er freilich auch mitzuteilen, was dies ist: das Hartholz der dortigen Schädel. Armin Stolper.
Eine Zeit lang habe ich den Dramaturgen als unglücklichste Gestalt des Theaterbetriebes gesehen: nicht Regisseur oder Autor, nicht Intendant oder Schauspieler - eine graue Sparte. Inzwischen denke ich anders über die Möglichkeiten dieser Hintergrundprofession. Namen stehen dafür: im Westen vor allem Dieter Sturm von der Westberliner Schaubühne, den der Dichter Botho Strauß, selbst eine Weile Dramaturg, als einen »späten Abkömmling aus der Gattung des pflichtlosen Philosophen« bezeichnete. Oder Hermann Beil, den still lächelnden Gegenpol zum brodelnden Claus Peymann. In der DDR Heiner Maaß, Bärbel Jaksch, Ilse Galfert. Und eben: Armin Stolper! Kundiger Bedenker, lesebesessener Planer, Niveau-Anmahner. Und als Erzähler ein großer Liebhaber des Wunderlichen, des Närrischen, des störrisch Ungelenken. Als Dramaturg verkörperte er den unerhörten Luxus des produktionsfreien helllichten Denkens, das unbekümmert ausschwingt und das sich ein Kunstbetrieb leisten muss.
Nun hin zu einem schönen Anfang, der immer stimmt: »Damals waren wir glücklich.« Gleich auf der ersten Seite das Entscheidende - und dazu noch etwas anderes Wichtiges: Rot ist mehr als eine Farbe. Mit solcher Wahrheit beginnt »Siebzigjährig - Dramaturg auf Lebenszeit«, ein autobiografisches Buch Stolpers über jene merkwürdige Berufstätigkeit zwischen Bibliothek und Bühne, Theorie und Praxis, Büro und Kantine. Der Lokführer-Sohn war Dramaturg in Senftenberg, am Maxim-Gorki-Theater Berlin, am Landestheater Halle, am Deutschen Theater Berlin. Sein Name gehört maßgeblich dazu, wenn man heute in beglückender Erinnerung die Regisseure Horst Schönemann und Christoph Schroth nennt, den Intendanten Gerhard Wolfram, die große Spielergilde, etwa Kurt Böwe, Martin Trettau, Ursula Werner. DDR-Theatergeschichte.
Halle an der Saale. Anfang der Siebziger. Es war die Zeit eines besonderen Volkstheaters. Eine Zeit großer Entwürfe, von denen damals kühn und selbstredend gemeint wurde, sie seien morgen schon lebbar. Was im Lande aber mehr und mehr zur trockenen politischen Verlautbarung wurde - es hatte am Hallenser Theater seltsamerweise eine impulsgebende Kraft. In Momenten, da die sozialistische Hoffnungsarbeit auf der Bühne in bestimmte Gesichter eingeschrieben war, denen man unbedingt glaubte, da geschah Aufregendes: Der unwirkliche Übermut riss wirklich mit. Da entsprachen Menschen einander, und wir wissen, wie selten das im Grunde geschieht. Nichts wirklich Gutes wird erfunden ohne größeren Zusammenhang.
Künstler handelten aus sozialistischer Überzeugung konform, aber daraus erwuchs nicht nur die schwierige Kultur der Einsicht und das Handwerk des Kompromisses. Nein, auch Widerstand! Der sich aber nicht gegen das System richtete, sondern, aus gelebtem Beteiligtsein heraus, auf Gesellschaftsveränderung - die stets stabilisieren wollte. Das war jenes Konfliktfeld auch Armin Stolpers. Es richtete auf und rieb auf. Man sprach damals leichthin aus, der Sozialismus sei Herzenssache - wen interessierte das Herz wirklich?
Auch die künstlerische Aufwärtseuphorie der Hallenser trug letztlich den Keim einer ideologischen Selbstgewissheit in sich. Nie aber umging Stolper reflektierend die unglücklichen Punkte seiner eigenen Arbeit, etwa auch, als 1972 die erfolgreiche Leitung des Hallenser Theaters mit dem Ziel einer Modellverpflanzung ans DT geholt wurde - und natürlich scheiterte. An der weit höher angesetzten Ästhetik des Hauses.
Eines seiner Bücher heißt beziehungswitzig: »Wir haben in der DDR ein ganz schönes Theater gemacht« - ein Requiem, in Stolz gesungen. Mit dem Selbstbewusstsein erfahrenen Glücks verteidigt er ein Stück deutscher Kultur. In einer Gegenwart, in der man - nach Ansicht Stolpers - die DDR-Theatergeschichte und deren europäische Bedeutung noch immer auf einen Appendix pauschal zu verurteilender Staatsgeschichte zu reduzieren sucht. Der Schriftsteller rät, dass man »Sünden, Irrtümer, Ansichten jeglicher Art, die man ein Leben lang mit sich herumschleppt, nicht einfach deshalb ablegen sollte, weil es einem eine andere Gesellschaft nahelegt. Man hat doch nur ein Leben, warum es plötzlich mit einer anderen Lebensanschauung belasten, deren Fragwürdigkeit doch keineswegs anders als die gehabte ist.«
Immer war es Stolpers essayistische, erzählerische Methode, mit Leuten in ein Gespräch zu kommen, wie es nur die Literatur in Gang bringen kann - sie hebt Grenzen zwischen Realität und Fantasie auf. Plötzlich steht Barlachs Bettler im Raum. Mit ihm der sperrige Dramatiker Alfred Matusche, und aufersteht Stolpers Zuneigung zu den »Wegsuchern, den Geisteskämpfern, den Ausgestoßenen«. Dichter wie Horst Drescher, Gottfried Unterdörfer. Naturmenschen, Christenmenschen, tapfer freundliche Menschen. Barlachs Frage, Matusches Frage, des Autors Frage: »Was bin ich mir und den anderen, wer braucht einen Menschen wie mich, der selber so wenig Antworten weiß.«
Stolper befragte in seinen Aufsätzen Gorki, Lessing, den Dänen Martin Andersen Nexö, und es verwundert nicht, dass in diesen Büchern oft und trotz aller Enttäuschungen die Rede geht von Weltenliebe. Dies in klarer Gewissheit über die schwierige Laune der Leute, sich eher listig als lauter durch die Zeiten zu schlagen. Stolpers Art ist Verständnis und Verfluchung zugleich, denn: Der Sanfte ist auch ein kräftiger roter Pfefferer. Der freundliche Dramaturg: ein unversöhnlicher Kämpfer. »Wir kaufen uns zu Tode, weil wir zu leben nicht vermögen. Wir reisen in der Welt herum, weil wir unser zerstörtes Zuhause nicht ertragen. Wir gucken in den Fernseher, weil wir die bitteren Wahrheiten, die wir im Herzen fühlen, nicht mehr auszuhalten glauben.«
Erzählungen hat der Paustowski-Liebhaber geschrieben (»Geschichten aus dem Giebelzimmer«, »Die Karriere des Seiltänzers«, in der DDR im renommierten Hinstorff-Verlag ediert), auch Hörspiele, etwa eine großartige Laxness-Adaption. Stolper, den eine unermüdliche Suche nach neuen Stoffen selber zum Dramatiker, vor allem zum Bearbeiter sowjetischer Prosa machte (»Himmelfahrt zur Erde«, »Zeitgenossen«, »Das Gemälde«), nannte sich einen »Kindskopp und Lumpenhund«, wie es die Schauspieler sind. Die er liebte. Am Ende seines Lebens veröffentlichte er seine »Bücheln«, wie er selber sagte, in linken Kleinverlagen, kantig resistent gegen die Versuchungen, allzu gebückt und wendig über Marktplätze zu kriechen.
Stolper, der Wanderer durch Lausitz und Launen, lobte mit Beharren die Vogelscheuche. Diese Heilige in jedem Wind und in den Kleiderträumen jedes Landstreichers. Das Wesen mit dem heimlichen Wunsch, die Vögel ließen sich gerne auf ihm nieder. Wundertiere und vertrackte Wunderdinge breiteten sich in seinen Geschichten aus, so wie es ihn Sean O’Caseys Bühnenstücke vielleicht »gelehrt« haben - er freute sich an den kleinen Dingen, derweil die sogenannten großen verwässern wie Schnee in der Hand. Lebensmühe, immer nah am Nachbarlichen.
»Weißer Flügel schwarzgerändert« heißt ein Gedichtband von 1982. Schon im Titel schönste Wahrhaftigkeit, die sich vor keiner Trauer zu retten versucht. Das Reine, von Realität eingefärbt. Erst einen Ort, dessen Wunde man sieht, hat man wahrhaft entdeckt. Das erzählen die Aufsätze, Geschichten, Briefe, Reflexionen Stolpers. Es sind die Flicken, die Gebrechlichkeiten, die Armut, die Verletzungen, die uns etwas erkennen lassen. Wir selber werden ja auch an diesen Zeichen erkannt. Dieser Autor sang das Hohelied auf das alltäglich zu lebende Leben, das jeden Morgen mit einer Zeit beginnt, die noch nie da war - auch wenn sie den Tagen gleichen mag, die bereits gelebt wurden.
Nun ist Armin Stolper, 1934 in Breslau geboren, im Alter von 86 Jahren in Berlin gestorben.
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