»Das ist unterlassene Hilfeleistung«

Der Hartz-IV-Bezieher Kim M. muss seit über fünf Monaten von rund 260 Euro im Monat leben

Sie sind seit August vergangenen Jahres arbeitslos und leben unterhalb des Existenzminimums. Wie kann es sein, dass Sie weniger als den Hartz-IV-Regelsatz von 432 Euro monatlich für 2020 beziehungsweise 446 Euro seit 1. Januar 2021 bekommen?

Das Jobcenter weigert sich, mir meine private Krankenkasse zu bezahlen. Nach der größten Niederlage meines Lebens, dem Durchfallen im Referendariat, weiß ich nicht mehr, wie ich über die Runden kommen soll. Ich habe mich dann aber zusammengerissen und bin sofort zur Krankenkasse gegangen, um meinen Versicherungstarif zu ändern. Ich muss seitdem zwar nur den reduzierten Beitrag von 170 Euro zahlen, allerdings von meinem Hartz-IV-Regelsatz. Selbst den reduzierten Krankenkassenbeitrag zahlt das Jobcenter nicht.

Konnten Sie nicht in die gesetzliche Krankenversicherung wechseln?

Das ist erst möglich, wenn ich wieder als Angestellter arbeite. Eigentlich müsste das Jobcenter meine private Krankenversicherung übernehmen, den Antrag auf Übernahme habe ich schon lange gestellt. Aber es passiert nichts. Erst meinten sie, es dauert 20 Bearbeitungstage, aber es kam keine Rückmeldung, obwohl ich zigmal angerufen habe. Auch der Antrag auf ein schnelleres Verfahren hat nichts gebracht.

Wovon leben Sie im Moment?

Ich habe einen ziemlich niedrigen Lebensstandard und hatte auch ein paar Ersparnisse, die sind aber inzwischen aufgebraucht. Zwar bekomme ich den Hartz-IV-Regelsatz, davon muss ich aber auch für die private Krankenkasse zahlen. Nach Abzug von Strom, Internet und Handy bleiben mir nur knapp 200 Euro im Monat. Bald muss ich mich entscheiden, ob ich weiter meine Miete zahle oder mir Essen kaufe.

Mussten Sie inzwischen schon Schulden machen?

Ja, ich musste Schulden machen. Und mir wurde auch schon mit Pfändung gedroht. Es regt mich wirklich auf, dass ich vor dem Abgrund stehe, obwohl ich nichts falsch gemacht habe. Wer zahlt die Zinsen für mein überzogenes Konto? Ein Mitarbeiter vom Jobcenter meinte, ich könne einen Antrag auf ein zinsloses Darlehen stellen. Das Problem ist nur: Was mache ich, wenn die Bearbeitung des Antrags genauso lange dauert wie die Geschichte mit der Krankenkasse? Wer zahlt all die Zinsen?

Wie erklären die Jobcentermitarbeitenden, dass die Bearbeitung des Antrages für die Übernahme der Krankenkassenbeiträge so lange dauert?

Ich soll Verständnis haben, durch die Coronakrise würde alles länger dauern. Aber ich muss ja von irgendwas leben! Ich esse jetzt schon jeden Morgen Haferschleim, weil es extrem billig ist und lange satt macht. Pro Woche brauche ich davon eine Packung. Da bin ich ganz dekadent und kaufe mir die teuren für 1,30 Euro, die günstigen schmecken nicht. Dazu ein bisschen Zimt und Obst. Abends gehe ich dann immer in die Ramschecke im Supermarkt, wo die Sachen mit kurzer Haltbarkeit günstig verkauft werden.

Wie fühlt es sich für Sie an, dass das Jobcenter sich so lange Zeit mit der Bearbeitung lässt?

Ich fühle mich extrem vernachlässigt und bin auch ein bisschen wütend. Mein ganzes Leben ist außer Kontrolle geraten und ich kann nichts dagegen tun. Alle Anrufe beim Jobcenter laufen ins Leere. Das ist unterlassene Hilfeleistung, lange geht das nicht mehr gut. Mein Konto ist extrem ausgereizt, und der Monat geht noch lange. Neulich musste ich zum Arzt, die Rechnung muss man als Privatversicherter erst einmal vorstrecken und bekommt das Geld erst später zurück. Aber wovon soll ich die Rechnung bezahlen? Ich habe auch Angst, dass das Jobcenter die Überweisungen der Krankenkasse dann als Einkommen ansieht. Vielleicht kürzen die mir dann mein Hartz IV.

Und wie läuft es bei der Suche nach einer neuen Arbeit?

Ich schreibe jede Woche etwa drei Bewerbungen, alle mit individuellem Anschreiben, aber bisher ist nichts dabei rumgekommen. Die Coronakrise macht die Jobsuche nicht leichter. Ich versuche auch einen geregelten Tagesablauf beizubehalten, stehe früh auf, habe eine Routine. Trotzdem habe ich Tage, an denen ich aufstehe und nur warte, dass es wieder dunkel wird und ich mich wieder schlafen legen kann.

Wünschen Sie sich bessere Hilfestellung?

Natürlich, man lernt ja nirgendwo, mit solchen Situationen umzugehen. Allein die ganzen Anträge beim Jobcenter zu stellen, ist schon kompliziert. Dazu kommt, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der man sagt: »Jeder ist seines Glückes Schmied.« Wenn du durchs Raster fällst, bist du selber schuld. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute den Mut haben zu sagen: »Ich kann nichts für meine Situation.«

Wie reagiert Ihr Umfeld auf Ihre Lage?

Von meiner Familie und meinen Freunden werde ich nicht für meine Situation verurteilt, aber sie wissen auch nicht, was man machen kann. Meine Eltern kommen aus der Unterschicht und können mir finanziell nicht helfen. Dazu kommt, dass sie in Hamburg wohnen, und ich darf Berlin nicht verlassen. Dafür müsste ich beim Jobcenter einen Antrag auf Ortsabwesenheit stellen. Und wie soll ich das Zugticket zahlen? Wenn man immer alles haarklein durchrechnen muss, geht das wirklich an die Substanz. Es tut weh, die liebevolle Beziehung zu den Eltern nach wirtschaftlichen Maßstäben zu berechnen, also zu fragen: Kann ich es mir wirklich finanziell leisten, meine Eltern zu sehen?

Also sind Sie aktuell ziemlich alleine mit der schwierigen Lage?

Allgemein ist es doch so: Wenn man auf der Arbeit ist, hat man Kollegen, mit denen man sich austauschen und über seine Probleme sprechen kann. Ich kann aber nur für mich sprechen, habe keinen Kontakt zu anderen Hartz-IV-Beziehern. Ich fühle mich extrem alleine gelassen.

Kurz nach dem Interview bekam Kim M. Post vom Jobcenter. Sein Krankenkassenbeitrag wird ab jetzt und auch rückwirkend übernommen. Überwiesen ist jedoch noch nichts. Und die Zinsen für die Schulden muss er selbst bezahlen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!