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Auf der Straße des Lebens gelang die Flucht
Galina Pawlowna erinnert sich an die Leiden der Leningrader Blockade
Ein Spätnachmittag im Dezember 2020. Galina Pawlowna sitzt vor der gemusterten Tapete ihrer Petersburger Wohnung und blickt erwartungsvoll auf den Bildschirm ihres Laptops. Es ist nicht die erste Videokonferenz, der die Rentnerin beiwohnt. Aber dass sich zwei junge deutsche Journalisten virtuell mit ihr über die Erlebnisse vor nunmehr fast 80 Jahren austauschen, kommt nicht jeden Tag vor.
Zu Beginn des Gesprächs ist die 83-Jährige noch etwas zurückhaltend, und es dauert eine Weile, bis sie von ihren Erlebnissen in der abgeriegelten Stadt erzählt. Sie ist eine der wenigen Zeitzeugen, die noch aus eigener Erfahrung von der Leningrader Blockade in den Jahren 1941 bis 1944 berichten können. Obwohl sie damals gerade einmal vier Jahre alt war, sind ihre Erinnerungen an die eingekesselte Stadt bis heute lebendig. Die Geräusche der Flugzeugmotoren und berstenden Fenster haben sich fest in ihr Gedächtnis eingebrannt. Bei einem Bombenangriff wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter im Keller des Wohnhauses verschüttet. Zwar konnten sie wenig später geborgen werden, doch dann erst begann für sie und ihre Mutter der eigentliche Überlebenskampf in einer von deutschen Soldaten abgeriegelten Stadt.
Die Wehrmacht hatte die Sowjetunion am 22. Juni 1941 überfallen. Was Adolf Hitler zunächst unter dem Schlagwort »Unternehmen Barbarossa« als Weltanschauungskrieg stilisierte, war in der Realität ein rassenideologischer Vernichtungskrieg. Neben dem Ziel, neuen Lebensraum im Osten zu erobern, war sein eigentliches Anliegen die Ausrottung des Judentums. Gleichzeitig sollten die slawischen »Untermenschen« dezimiert und den neuen Siedlern unterworfen werden. Ziel war es, die Sowjetmacht zu zerschlagen und noch vor Wintereinbruch bis an die Wolga vorzudringen.
Der Plan schien zunächst aufzugehen. Bereits zwei Monate später, am 1. September 1941, eroberte die Heeresgruppe Nord der Wehrmacht Gebiete südlich von Leningrad, dem heutigen St. Petersburg. Hitlers ursprünglicher Plan war es, die Stadt einzunehmen. Doch da die Heeresgruppe Nord nicht in der Lage gewesen wäre, einen effektiven Angriff auf Leningrad zu organisieren und Hitler die Stadt im nahenden Winter nicht versorgen wollte, gab er am 12. September den Befehl, Leningrad einzuschließen. Zum damaligen Zeitpunkt lebten in der Stadt rund 2,5 Millionen Menschen. Hitler spekulierte darauf, dass die Stadt sich im Laufe der Zeit selbst aufgeben würde. Auf diesen grausamen Plan folgten 872 Tage Belagerung bis zum 27. Januar 1944. Es gibt unterschiedliche Schätzungen, wie viele Menschen während der Blockade zu Tode gekommen sind. Historiker gehen aktuell von über einer Million Opfern aus, von denen die meisten an Hunger gestorben sind.
Der tödliche Winter 1941/42
Die schwerste Zeit für die Leningrader Bevölkerung war der erste Winter. Durch Bombenangriffe waren die Lebensmittellager nahezu komplett zerstört worden. Deutsche Soldaten hatten die Stadt vollständig abgeriegelt, so dass nichts und niemand mehr aus Leningrad herein- oder -rauskam. Es gab keine Elektrizität, keine Heizung, kein Wasser. Und die Temperaturen sanken an manchen Tagen auf bis zu minus 42 Grad. Die Menschen fingen in ihrer Not an, Möbel zu verheizen. »Doch am schlimmsten war der Hunger«, sagt Galina Pawlowna. Die Bevölkerung bekam die Versorgungsnot anhand der drastisch sinkenden Normen für die Lebensmittelausgabe zu spüren.
Im November 1941 wurde für die Bewohner der belagerten Stadt die niedrigste Ration Brot eingeführt - 125 Gramm pro Tag, zur Hälfte mit Holzkrümeln und anderen Unreinheiten gemischt. Alles Essbare in der Stadt wurde zusammengetragen, sogar Ledergürtel und Schuhsohlen wurden gekocht. »Ich kann mich erinnern, wie ich dasitze und Kleber esse, den ich zuvor aus Buchrücken und von den Tapeten an der Wand herausgepult habe.« Als Galina Pawlowna dies erzählt, muss sie für einen Moment innehalten. Schmerzlich sind die Gedanken an das Erlebte. Als sie erzählt, welches Grauen der ständige Hunger über die Menschen brachte, wählt sie ihre Worte mit Bedacht. »Nicht einmal Hunde, Katzen und Tauben blieben in Leningrad übrig.« Mit der Zeit wurde der Tod zu ihrem düsteren Begleiter. »Menschen gingen auf die Straße und fielen einfach um. Ihre Leichen wurden nicht einmal von jemandem aufgehoben, denn die Menschen hatten keine Kraft mehr. Man durfte sich nicht hinlegen und nichts tun. Denn wer sich hinlegte, stand nie wieder auf«, sagt Galina Pawlowna.
Die Straße des Lebens
Ende November 1941, nach zweieinhalb Monaten Belagerung, gelang es der Roten Armee schließlich, eine Eisstraße über den zugefrorenen Ladogasee im Norden Leningrads anzulegen. Dank dieser Verbindung zum russischen Festland gelangten nicht nur lebensnotwendige Güter langsam wieder in die Stadt, auch die Bewohner nutzten den Ausweg und flohen zu Hunderttausenden. Der 36 Kilometer lange Flucht- und Versorgungsweg trägt deshalb den Namen »Straße des Lebens«.
Doch nicht alle in der belagerten Stadt hatten die Möglichkeit, aus der Stadt zu entkommen. Galina Pawlowna und ihre Mutter flohen erst Ende Februar 1942, als beide bereits wegen des Hungers an einer schweren Dystrophie erkrankt waren. Sie erreichten den Ladogasee nur mit großer Mühe. Dort angekommen sah sich die Mutter nach einem freien Transportfahrzeug, der sogenannten Polutorka, um. Die kleine Tochter hatte sie derweil mit ihrer wenigen Habe auf einem Schneehaufen abgesetzt. Galina Pawlowna erinnert sich, wie sie völlig übereilt in die Polutorka stiegen: »Alle unsere Sachen blieben im Schnee zurück, wir haben nichts mitnehmen können. Als wir über die Eisstraße gefahren sind, brach vor uns ein Fahrzeug im Eis ein. Es war schrecklich, und die ganze Zeit wurde bombardiert.«
Als Mutter und Tochter das andere Ufer des Sees endlich erreichten, hatten sie immer noch einen weiten Weg vor sich. Zuflucht fanden sie schließlich bei Verwandten im 800 Kilometer entfernten Jaroslawl. Dort gab man den ausgemergelten Flüchtlingen zunächst eine Mischung aus Wasser und Brot. »Am schwersten war es, nicht alles auf einmal zu essen. Denn die Leute, die sofort alles gegessen haben, bekamen schwere Magenkrämpfe und starben daran. Als Kind war es für mich nicht nachvollziehbar, weshalb ich mich nicht sofort satt essen durfte.«
Rückkehr nach Leningrad
1946, nach dem Ende des Krieges, kehrten Mutter und Tochter nach Leningrad zurück. Auf die Frage, warum sie in die zerstörte Stadt, in der sie so viel Leid erfahren hatten, zurückkamen, antwortet Galina Pawlowna: »Meine Mutter und ich waren in Leningrad zur Welt gekommen, unsere Wurzeln waren dort. Für uns war es immer noch die schönste Stadt der Welt.«
Obwohl Galina Pawlowna zur Zeit der Blockade noch ein kleines Kind war, hat sie das Erlebte nie losgelassen. Als sie mit 55 Jahren in Rente ging, begann sie sich ehrenamtlich im Städtischen Rat der Veteranen zu engagieren. Die Organisation hilft Blockade-Überlebenden beispielsweise bei der Durchsetzung von Rentenansprüchen. Aber auch im familiären Umfeld mit ihren Kindern und Enkeln hat sie von Anfang an über die Kriegserlebnisse gesprochen. Die schmerzlichen Erinnerungen an die Blockade hat sie niemals aus ihrem Leben ausgeblendet.
»Blokadniki« nennen Russen die Opfer und Überlebenden der Leningrader Blockade, sie genießen ein hohes Ansehen. Stolz hält Galina Pawlowna ihre Messingmedaille mit dem Titel »Einwohnerin des belagerten Leningrad« in die Webcam. Mit dieser Auszeichnung wurden Menschen geehrt, die mindestens vier Monate in der belagerten Stadt gelebt haben. Der Tag der Aufhebung der Blockade am 27. Januar 1944 ist einer der wichtigsten Feiertage in St. Petersburg. Jedes Jahr findet eine Militärparade auf dem Palastplatz statt, und auf dem Marsfeld werden Kanonensalute zu Ehren der Roten Armee in die Luft gefeuert. Auch die sowjetische Ehrenbezeichnung »Heldenstadt«, die St. Petersburg heute noch trägt, zeugt von einer heroischen Erinnerungskultur.
In diesem Jahr werden die Feierlichkeiten pandemiebedingt allerdings nur in Kurzform oder online abgehalten. Das Festkonzert in der Petersburger Oktjabrskij-Konzerthalle, auf das sich Galina Pawlowna besonders gefreut hatte, wird im Fernsehen gesendet. Allerdings sollen die Zeremonien auf den Gedenkfriedhöfen jedoch unter Einhaltung der Hygienestandards weiterhin stattfinden. Das individuelle Gedenken an die Leiden der Bevölkerung erfolgt in St. Petersburg an vielen dezentralen Erinnerungsorten.
In der alten und auch in der vereinigten Bundesrepublik Deutschland nahm die Erinnerung an die Leningrader Blockade neben Kriegsschauplätzen wie Stalingrad oder Dresden lange Zeit nur eine untergeordnete Rolle ein. Erst vor zwei Jahren rückte das Ereignis stärker ins Bewusstsein einer größeren Öffentlichkeit. Anlässlich des damaligen 75. Jahrestags der Aufhebung der Blockade verkündete der deutsche Außenminister Heiko Maas gemeinsam mit seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow eine »humanitäre Geste«. Deutschland erklärte sich bereit, ein Veteranen-Krankenhaus zu sanieren und sagte außerdem mehr Mittel zu, um die Erinnerung an die Leningrader Blockade lebendig zu halten. Dieses Vorhaben wird von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Kooperation mit dem deutsch-russischen Begegnungszentrum in St. Petersburg umgesetzt. Die Stiftung organisiert zahlreiche Bildungs- und Kulturangebote sowie Begegnungstreffen mit Überlebenden der Blockade, an denen auch Galina Pawlowna bereits teilgenommen hat. Die Verabschiedung von ihr am Ende des Videogesprächs ist herzlich. »Über die Leningrader Blockade wurde schon sehr vieles geschrieben. Trotzdem kann man immer noch so viel davon erzählen«, sagt sie.
Als sie die deutschen Journalisten zum Abschied zu einer Führung einlädt, wird klar, sie will mit ihrer Erinnerungsarbeit nicht nur die Vergangenheit erlebbar machen, sondern auch Brücken zwischen einst verfeindeten Nationen bauen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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