Nasse Füße für die städtische Klimaanlage

Der Leipziger Auwald zählt zu den größten seiner Art, leidet aber massiv unter Trockenheit. Jetzt gibt es Pläne zu seiner Rettung

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Wasser, so weit das Auge reicht: So muss der Leipziger Auwald bis vor 80 Jahren ausgesehen haben, wenn es kräftig geregnet hatte oder im Erzgebirge der Schnee taute. »Bei Hochwasser«, sagt Philipp Steuer, »war die Aue manchmal auf zwei Kilometer Breite überschwemmt.« Es muss ein beeindruckendes, auch Ehrfurcht einflößendes Bild gewesen sein: Alte Baumriesen - Eichen, Ulmen, Eschen, Weiden -, die aus der von Strudeln bewegten und schier uferlosen Wasserfläche ragten. Das Naturspektakel sorgte aber nicht bei allen Leipzigern für Begeisterung. Wenn das Hochwasser wieder falle, beklagte 1936 eine Zeitung, blieben Lachen und Tümpel ausdauernd auf dem sehr lehmigen Boden stehen, wodurch die Wälder »dem Ausflugsverkehr fast verschlossen« blieben.

Wer heute durch die Leipziger Aue läuft, sieht nicht entfesselte Fluten, sondern Wasser, das träge durch schnurgerade, an Kanäle erinnernde Flussbetten strömt. Eingezwängt werden sie von meterhohen Deichen, auf denen sich immerhin der Ausflugsverkehr vollzieht: Jogger, Spaziergänger und Hundebesitzer, die es ins Grüne zieht. Weil sich die Auen von Weißer Elster und Pleiße, Parthe und Luppe von Süden nach Norden mitten durch die Großstadt ziehen, ist der Auwald in Leipzig nie sehr weit entfernt. Als Naherholungsgebiet ist er nach wie vor beliebt. Seinem Namen freilich wird er immer weniger gerecht: »Es ist ein degradierter Auwald«, sagt Steuer, der im Naturschutzbund Nabu engagiert ist. Eine kürzlich publizierte Studie nennt den Leipziger Auwald gar einen »chronisch kranken Patienten«.

In gesundem Zustand war er eine biologische Schatzkammer. Philipp Steuer breitet eine Karte aus, auf der die Aue in einem ursprünglicheren Zustand zu sehen ist: ein Netz von gewundenen und verzweigten Flussläufen, Bächen, Rinnsalen. Solche natürlichen Flussauen und die dort befindlichen Wiesen und Wälder zeichnet das ständige Wechselspiel von Überflutung und Trockenheit aus. Oft steht das Wasser wochenlang zwischen Bäumen und Büschen; nährstoffreiche Sedimente lagern sich ab, was Voraussetzung für eine beeindruckende Artenvielfalt ist. In der Leipziger Aue gab es einst Sumpfschildkröten, Bachmuscheln, Edelkrebse. Auch jetzt sind hier noch seltene Pflanzen, Insekten und Amphibien beheimatet, die teils auf der Roten Liste bedrohter Arten stehen.

Aus einer auf wirtschaftliche Nutzbarkeit gerichtete Sicht auf Landschaft haben Auen indes Nachteile. Wenn der Wasserpegel wie in Leipzig um bis zu vier Meter steigen konnte, litt nicht nur der Ausflugsverkehr. Auch eine landwirtschaftliche Nutzung der fruchtbaren Böden barg viele Unwägbarkeiten; an Bebauung war überhaupt nicht zu denken. Also wurden ab Mitte des 19. Jahrhunderts Pläne zur, wie es hieß, »Berichtigung« der Flussläufe entworfen. In der Gründerzeit, erzählt Steuer, habe der Industrielle Karl Heine zuvor wertlose Grundstücke erschlossen, um Fabriken und Wohnhäuser zu errichten - was voraussetzte, dass die Gewässer reguliert wurden. Es entstanden ein heute nach Heine benannter Kanal und der Lindenauer Hafen. In den 1930er Jahren wurden, teils durch den NS-Arbeitsdienst, die »Neue Luppe« und das Elsterflutbecken angelegt; wie mit dem Lineal gezogene Bauwerke, die natürliche Wasserläufe zerschnitten und, weil sie tiefer im Gelände lagen, entwässerten. Das Ziel bestand darin, Hochwasserfluten so schnell wie möglich aus der Stadt zu leiten.

Damit freilich ging dem Auwald verloren, was ihn doch eigentlich ausmacht: die regelmäßige Überschwemmung. Auwälder müssen mindestens alle fünf Jahre, eher aber öfter überflutet werden. Kleinere Hochwasserereignisse schaffen das aber wegen der Eintiefung von Neue Luppe & Co. gar nicht mehr. Das ist schlecht für Auenbewohner wie Eiche oder Ulme. »Sie brauchen den Wechsel«, sagt der Biologe Christian Wirth, der an der Uni Leipzig lehrt und das Deutsche Zentrum für Biodiversitätsforschung (iDiv) leitet. Wenn die Bäume nicht mehr hin und wieder im Wasser stehen, hat das Folgen, die auch für Laien zu erkennen sind. Beispielsweise steht im Leipziger Auwald viel Ahorn. Dieser kommt in Flussauen eigentlich nicht vor, weil er nicht gern nasse Füße bekommt. Dass es mittlerweile nur noch selten zu Überflutungen kommt, führt zu einer »Verahornung«, sagt Wirth - die wiederum »der Tod der Eiche« sei. Deren Schösslinge brauchen Licht, das unter dem dichten Blätterdach des Ahorn fehlt. Nachwuchs bleibt aus. Der Auwald sei nur noch »ein Altersheim für Eichen«.

Das ist um so fataler, als die Eiche der letzte für Hartholzauen typisch Baum ist, der im Leipziger Auwald vorkommt. Die Ulmen sind bereits vor Jahren einer Krankheit zum Opfer gefallen. Die Eschen kämpfen seit etwa 15 Jahren mit dem Befall durch drei Arten von Käfern, die die unter der Rinde befindliche, Wasser und Nährstoffe führende Bastschicht schädigen. Zuletzt wurden die Abwehrkräfte weiter geschwächt. Grund war die Dürre der Jahre 2018 und 2019. Den Bäumen ging neben der Überflutung teils auch der Kontakt zum Grundwasser verloren, der für sie eine Art »Restversicherung« sei, wie Wirth formuliert. Der resultierende Trockenstress macht sie anfälliger für Schädlinge und Krankheiten. Wirth befürchtet, dass weniger als zehn Prozent der Eschen überleben werden.

Man könnte das mit einem Achselzucken hinnehmen: So ist der Lauf der Dinge, und ob der Leipziger Ausflugsverkehr unter Eichen oder Ahorn stattfindet, ist vielen der Jogger oder Hundehalter vermutlich herzlich egal. Fachleute wie Wirth oder Steuer sehen das anders. Für sie sind Flussauen und ihre Wälder »Hotspots der biologischen Vielfalt« und bieten »Ökosystemleistungen für den Menschen«. So steht es in einer von beiden mitverfassten Studie, die kürzlich von iDiv und Umweltforschungszentrum Leipzig herausgegeben wurde und im Titel für die »Revitalisierung des Leipziger Auensystems« wirbt.

Derlei Forderungen sind Ausdruck eines geänderten Blicks auf Auenlandschaften. Er richtet sich, anders als vor Jahrzehnten, nicht mehr auf die Aue als potenzielles Acker- und Bauland, das durch Trockenlegung erschlossen werden müsste. Vielmehr gilt das Augenmerk nun Zielen wie dem Erhalt von Biodiversität und dem Schutz der einzigartige Lebensräume seltener Pflanzen- und Tierarten. Der unmittelbare Nutzen für den Menschen gerät dabei nicht aus dem Blick; er besteht aber in anderen »Leistungen« der Aue: Diese sorgt etwa an heißen Sommertagen für natürliche Abkühlung und sei gewissermaßen »die Klimaanlage der Stadt«, sagt Wolfram Günther, Sachsens grüner Umweltminister. Und selbst dem Hochwasserschutz können intakte Auwälder dienen: Weil sich dort viel Wasser »verläuft«, werden Flutwellen gekappt. Die Einsicht führte nach dem großen Hochwasser 2002 dazu, dass im Lödderitzer Forst an der mittleren Elbe ein Deich zurückverlegt und ein Auwald renaturiert wurde.

Der Lödderitzer Forst und ähnliche Vorhaben an der Spree oder der Lippe in Nordrhein-Westfalen zeigen, dass die Renaturierung von Auwäldern gelingen kann. Die Beispiele spornen Befürworter solcher Bestrebungen im Leipziger Auwald an, der immerhin der sechstgrößte seiner Art in der Bundesrepublik ist, der zweitgrößte innerhalb einer Großstadt und der größte in Sachsen. Gleichzeitig ist klar, dass man sich spätestens mit den Dürrejahren 2018 / 19 in einem »Wettlauf gegen eine rapide Verschlechterung« befindet, wie es in der Studie heißt. In Leipzig träfen ein »seit Jahrzehnten gestörter Wasserhaushalt« und Folgen des Klimawandels »mit besonderer Härte« aufeinander. Gleichwohl gehen die 13 Fachleute um Wirth davon aus, dass die Erfolgsaussichten für eine Renaturierung bei entschlossenem Handeln noch immer hoch sind. In ihrem Papier listen sie 70 konkrete Vorschläge auf.

Im Kern geht es darum, den Bäumen im Auwald wieder regelmäßig »nasse Füße« zu verschaffen. Zaghafte Versuche dazu haben Naturschützer mit Unterstützung der Stadt schon in den 1990er Jahren unternommen, wie Steuer am Burgwegbach zeigt, einem Rinnsal im Unterholz. Es wurde durch verschiedene Baumaßnahmen wieder mit Wasser »bespannt«, wie der Fachausdruck lautet. Gleiches wird für viele ähnliche Wasserläufe angestrebt, die derzeit nur als Rinnen im Gelände zu erahnen sind. Diesem Ziel dienen einige »Sofortmaßnahmen«. Das sächsische Umweltministerium verweist auf den Bau eines Einlaufbauwerks in die Aue sowie Genehmigungsverfahren, um einige Bereiche durch die veränderte Steuerung von Wasserbauwerken regelmäßig fluten zu können.

Doch viele Maßnahmen sind deutlich aufwendiger, brauchen viel mehr Zeit und setzen die Abwägung vieler Interessen voraus. Steuer verweist etwa auf die tief eingegrabenen Sohlen der künstlichen Wasserläufe. Sie müssten höher gelegt werden. Eine Möglichkeit ist der Bau von Schwellen im Gewässer, hinter denen sich im Fluss mitgeführtes Sediment ablagert; eine natürliche Verlandung also, wie sie im Elster-Flutbecken schon jetzt stattfindet. Das dauert lange. Alternativ könne die Sohle mit »Geschiebe« aufgefüllt werden. Auf die Frage, woher das kommen solle, weist Steuer auf die Deiche entlang der Neuen Luppe. Weil der Hochwasserschutz der Stadt durch weiter entfernte Wälle und natürliche Geländeerhebungen gewährleistet sei, »könnten diese Deiche eigentlich wieder hinein« in den Wasserlauf. Wirth denkt sogar, dass die »Neue Luppe« insgesamt wieder verschwinden müsste.

Solche Vorschläge lassen ahnen, dass der Wiederbelebung der Aue einiges an Debatten vorausgehen wird. Beteiligt sind so unterschiedliche Vertreter wie Naturschutzverbände und die für den Hochwasserschutz zuständige Landestalsperrenverwaltung, dazu Landwirte, Forstwirtschaft, Stadt, Bürgerinitiativen. Steuer verweist darauf, dass es auch unter Naturschützern widerstreitende Interessen gibt, etwa Bestrebungen zum Schutz seltener Pflanzen, die sich im ausgetrockneten Auwald angesiedelt haben, dessen erneute Vernässung aber nicht vertragen würden. Von einem »hohen Moderationsaufwand« spricht Minister Günther. Dessen Haus hat nun eigens eine Koordinierungsstelle geschaffen; eine Strategiegruppe soll zentrale Absprachen befördern.

Sie wird damit eine Weile beschäftigt sein. Man rede über einen Zeitraum »von mindestens 20 Jahren«, sagt Günther. Wirth geht mit Verweis auf Beispiele wie die Renaturierung der Lippe von ähnlichen Zeiträumen aus, betont aber, dass erste Vorhaben in zwei bis drei Jahren umgesetzt sein könnten. Davon, dass sich die Arbeit lohnt, sind der Politiker wie der Wissenschaftler überzeugt. Günther sagt, es gehe um ein »Naturschutzprojekt in einer wachsenden Großstadt«, das »einzigartig für Deutschland und auch in Europa etwas Besonderes« sei. Und Wirth träumt bereits von einem »städtischen Nationalpark«, der zu einem »neuen Leipziger Wahrzeichen« werden könne. Dort werden sich Ausflügler von Lachen und Tümpeln nicht abschrecken lassen, sondern kommen genau ihretwegen.

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