Einigungsvertrag BRD/DDR: Strategie der Überrumpelung

Uwe-Jens Heuer und Gerhard Riege analysierten schon 1992 das Unrecht, das mit der Überführung der DDR in die BRD verbunden war

Kritisierten den Einigungs- als »Anschlussvertrag«. Uwe-Jens Heuer (l.) und Gerhard Riege 1991
Kritisierten den Einigungs- als »Anschlussvertrag«. Uwe-Jens Heuer (l.) und Gerhard Riege 1991

Er ist in meiner Erinnerung ein sehr freundlicher, zugleich meist irgendwie zorniger älterer Herr. Anfang der 90er war Uwe-Jens Heuer einige Male bei den Treffen unserer von Studierenden im Frühjahr 1990 gegründeten Hochschulgruppe Demokratischer SozialistInnen an der Berliner Humboldt-Uni. Er suchte den Kontakt zum politischen Nachwuchs. Der hochgewachsene Mann beeindruckte durch seine umfassende marxistische, juristische und ökonomische Bildung ebenso wie durch seine Geradlinigkeit und analytische Schärfe. War er in der DDR »nur« ein angesehener Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler gewesen, so stürzte sich der damals 63-Jährige nun mit Verve in die Politik.

Dass es dem Westen nie um eine »Wiedervereinigung« ging, sondern um eine Übernahme der DDR und die schlichte Ausweitung des Geltungsbereichs des politischen, juristischen und Wirtschaftssystems der Bundesrepublik auf deren Gebiet, wusste Heuer im Anfang 1990 längst.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Galt er der SED schon als unbequem, so wurde er nun zum Widerpart derer in der PDS, die der SED-Nachfolgerin den Stalinismus austreiben und ihn aufarbeiten wollten. Er plädierte für eine differenzierte Bewertung des DDR-Erbes, die auch in der Linken bis heute aussteht. Damit fand sich Heuer selbst bald mit Stempeln wie »Stalinist« und »Ewiggestriger« versehen, auch in der eigenen Partei. Dabei war er in der DDR weitaus mutiger gewesen als viele jener Genossen, die ihn nun kritisierten. Er hatte unter anderem immer wieder eine Demokratisierung des Wirtschaftssystems und mehr Unabhängigkeit der Betriebe eingefordert. Seine Vorstellungen hatte er detailliert und fundiert dargelegt.

In der PDS gehörte Heuer zu denen, die schnell die politische Funktion des Stalinismus- und Unrechtsregime-Verdikts gegenüber der DDR erkannten. So defizitär bis missraten der Sozialismusversuch war, so wurde er von den BRD-Eliten dennoch auch im Nachhinein als gefährlich angesehen. Vorzüge dieser Alternative zum Totalitarismus des kapitalistischen Systems sollten möglichst umfassend aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden.

Auch dass der deutsche Kapitalismus sich nun, nach dem Sieg über den rivalisierenden politischen Block, wieder zur raubtierhaften Kenntlichkeit zurückentwickelte, Demokratieabbau inklusive, erkannte Heuer früh. Deshalb stemmte er sich innerhalb der PDS so vehement gegen jedes Appeasement mit diesem Gesellschaftssystem. Er wurde ein wortgewaltiger Vertreter jener Gruppen in der PDS, die konsequente Opposition und die Mobilisierung der arbeitenden Klasse für die Verteidigung ihrer bedrohten Rechte als Aufgabe der gesellschaftlichen und parteipolitischen Linken ansahen. Den Wunsch vieler in der PDS nach Anerkennung und Integration in den westlichen Parlamentarismus und die frühe Orientierung auf die Beteiligung an Landesregierungen in Ostdeutschland fand Heuer grundfalsch.

Im Dezember 1990 zog er mit der PDS in den ersten gesamtdeutschen Bundestag ein, obwohl die Partei im Bundesdurchschnitt nur auf 2,4 Prozent der Stimmen gekommen war. Damals galt aber die Sonderregelung, dass eine Partei auch dann als Gruppe ins Parlament kommt, wenn sie in einem der früheren Staaten die Fünf-Prozent-Hürde überwinden konnte. Uwe-Jens Heuer blieb dann acht Jahre im Bonner Parlament. In seiner politischen Autobiografie »Im Streit – ein Jurist in zwei deutschen Staaten« (Nomos, 2002) zeichnete er die von westdeutscher Seite gelegten juristischen Finten im Prozess der »Vereinigung« der beiden deutschen Staaten nach. Denn er war auch Mitglied der am 18. März 1990 gewählten letzten Volkskammer gewesen.

Schon 1992 veröffentlichte Heuer zusammen mit seinem Bundestagskollegen Gerhard Riege ein Buch mit dem Titel »Der Rechtsstaat – eine Legende?« (Nomos Verlagsgesellschaft). Darin schildern die beiden Juristen detailliert die Rechtsbrüche, von denen der Prozess des DDR-Beitritts zur BRD begleitet war: die Umwandlung der Treuhandgesellschaft, die noch die Modrow-Regierung zwecks Schaffung echten Volkseigentums veranlasst hatte, in eine Institution zur Privatisierung der DDR-Betriebe; den Weg zur »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion«, die bereits zum 1. Juli 1990 vollzogen wurde, und schließlich das Durchpeitschen des Einigungsvertrages.

Die Volkskammer beschloss dieses Regelwerk am 31. August 1990. Es regelte den »Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes«. In Kraft trat das, was Riege und Heuer in ihrem Buch »Anschlussvertrag« nennen, am 3. Oktober desselben Jahres.

Schon der am 21. Juni von der Volkskammer letztlich durchgewinkte Vertrag zur Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion legte nach Einschätzung ostdeutscher Juristen und Wirtschaftswissenschaftler wie Heuer und Riege, Erich Buchholz und Jörg Roesler für das Beitrittsgebiet geradezu marktradikale Grundsätze fest. So wies die Mehrheit eine von SPD, PDS und Bündnis 90/Grüne geforderte soziale Verpflichtung des Eigentums analog Artikel 14 des Grundgesetzes zurück und gab in allen Belangen der Privatwirtschaft den Vorrang. In Leitsätzen wurde unter anderem festgelegt: »In die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung darf nur so wenig wie möglich eingegriffen werden.« Unternehmen in Staatseigentum seien »so weit wie möglich in Privateigentum zu überführen«.

In seinen Memoiren berichtet der 2011 verstorbene Heuer, das Parlament habe schon am 17. Juni 1990 die DDR-Verfassung durch allgemeine Verfassungsgrundsätze, die das Privateigentum gewährleisteten, außer Kraft gesetzt und mit dem neuen Treuhandgesetz den Weg zu rasanter Privatisierung des Volkseigentums eröffnet.

»Hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt.«

Wolfgang Schäuble 1990 Innenminister der BRD (CDU) und deren Verhandlungsführer auf dem Weg zur deutschen Einheit

Der zweite Staatsvertrag, genannt Einigungsvertrag, »vollendete das Werk«, schreiben Heuer und Riege. Parallel wurde das Gesetz über offene Vermögensfragen verabschiedet, das enorme Unsicherheit und zahllose juristische Auseinandersetzungen auslöste. Mit dem Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung« machte es alle Enteignungen und Vergesellschaftungen aus DDR-Zeiten rückgängig.

Der spätere Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, seit April 1989 Bundesinnenminister, war als Beauftragter der bundesdeutschen Seite bei der Aushandlung des Einigungsvertrages der große Drahtzieher hinter den Gesetzespaketen, die die fast durchgehend politisch unerfahrenen, aber zu großen Teilen willigen DDR-Volksvertreter dann beschlossen.

In dem 1991 veröffentlichten Interviewbuch »Der Vertrag« berichtete der CDU-Politiker freimütig, dass die Einführung des Bundesrechts und die Selbstauflösung der DDR seit Langem in Sack und Tüten gewesen waren: »In aller Heimlichkeit hatten wir im Bundesinnenministerium schon im Februar 1990 (…) damit begonnen, die Wiedervereinigung Deutschlands rechtlich vorzubereiten. (…) Aber von unseren Vorbereitungen durfte nichts nach außen dringen. Sonst hätte es einen öffentlichen Sturm gegeben«. Und die Interviewer schrieben, Schäuble sei derjenige gewesen, der für den Ablauf des DDR-Beitritts »das Drehbuch schrieb«.

Gegenüber dem letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière erklärte Schäuble im Juli 1990 nach eigener Aussage, man wolle zwar nicht »kaltschnäuzig« über Wünsche und Interessen der DDR-Seite hinweggehen. Aber, so Schäuble: »Hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt.« Deshalb, schrieben Heuer und Riege, sei die Bezeichnung »Anschlussvertrag« durchaus angemessen. Die DDR habe eins zu eins das bundesdeutsche Recht erhalten, sehr wenig eigenes habe noch Geltung behalten.

Selbst in der PDS und ihrem Umfeld, monierte Heuer später, hätten aber damals und etliche weitere Jahre Illusionen über die vorhandenen Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Entwicklung auf dem Gebiet der DDR geherrscht. Dabei wurde offen eine Schockstrategie der Deindustrialisierung samt Halbierung der Wirtschaftsleistung gegenüber 1989 gefahren. So fabulierte Günther Krause (CDU), Verhandlungsführer auf DDR-Seite, von »schöpferischer Zerstörung« der »alten Strukturen der bisherigen Kommandowirtschaft«, die dem Osten gute Chancen eröffneten, »sich zu einem Industriestandort mit modernster Technik zu entwickeln«.

Auch um davon abzulenken, dass hier gezielt die Bevölkerung eines ganzen Landes über den Tisch gezogen wurde, dürften ab 1990 Begriffe wie Unrechtsregime oder SED-Diktatur für die DDR eingeführt worden sein. Was der kleinere deutsche Staat wirklich war, erörterten Heuer und Riege ausführlich und ernsthaft. Ihr Urteil: Die DDR sei trotz positiver Entwicklungen »bis zum Schluss kein Rechtsstaat« gewesen. Aber: »Ihre Charakterisierung als Unrechtsstaat dient ausschließlich politischen Zwecken, nicht zuletzt der Gleichsetzung mit dem Nazifaschismus, soll heute (…) der Rechtfertigung von Abrechnungsmaßnahmen dienstbar gemacht werden.« Derer gab es viele. Erinnert sei nur an den »Elitentausch«. Der Begriff umschreibt die nahezu vollständige Entfernung auch international hoch angesehener DDR-Wissenschaftler in Geistes- und Naturwissenschaften von den Universitäten und ihre Ersetzung durch vielfach mittelmäßige West-Professoren.

Die Mitglieder der PDS-Gruppe im Bonner Parlament sahen sich nicht zuletzt aufgrund der Delegitimierungsstrategie – die der damalige Justizminister Klaus Kinkel (FDP) von Richtern und Staatsanwälten ganz offen eingefordert hatte – ganz ohne eine AfD-Fraktion in unfassbarem Maße Hassreden ausgesetzt. Das ertrug nicht jeder. Heuers Ko-Autor Gerhard Riege nahm sich am 15. Februar 1992 das Leben. Und so wurde Heuers Vorwort zum gemeinsamen Buch ein Nachruf auf den Freund und Genossen. Die Kraft »zum Kämpfen und zum Leben« sei ihm »in der neuen Freiheit genommen worden«, schrieb Riege in seinem Abschiedsbrief. Und weiter: »Ich habe Angst vor dem Hass, der mir im Bundestag entgegenschlägt aus Mündern und Augen und Haltung von Leuten, die vielleicht nicht einmal ahnen, wie unmoralisch und erbarmungslos das System ist, dem sie sich verschrieben haben.«

Besonders schlimm dürfte es für Riege gewesen sein, dass auch Genossen auf Distanz gingen, nachdem Informationen über seine damals mehr als 30 Jahre zurückliegenden Kontakte zum DDR-Ministerium für Staatssicherheit bekannt gemacht worden waren. Dies, obwohl selbst die Stasiunterlagenbehörde erklärt hatte, diese seien unbedeutend gewesen und Riege habe niemanden denunziert. Im Bundestag wurde er dennoch als »Stasi-Heini« niedergebrüllt.

- Anzeige -

Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.

Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen

Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.