Hoffen auf die »Apotheke der Welt«

Nicht nur wegen Corona: Indien streitet schon länger mit den USA und der EU ums Patentrecht

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.

Über Jahrzehnte hat sich Indien einen Ruf als »Apotheke der Welt« gemacht. Die Bezeichnung kommt nicht von ungefähr: Das Land ist drittgrößter Arzneimittelhersteller nach Volumen und Nummer 14, wenn man den Wert dieser Präparate zugrunde legt. Während ein gewichtiger Anteil im Inland verbleibt, wo bald 1,4 Milliarden Einwohner zu versorgen sind, sind auch die Exporte, die sich auf 20 Prozent des weltweiten pharmazeutischen Warenverkehrs belaufen, beachtlich. Mit knapp 200 belieferten Staaten gibt es kaum ein Land, das leer ausgeht. Die Impfstoffproduktion stellt einen wesentlichen Aspekt in diesem Gesamtgefüge dar.

Um die genaue Auslegung von Patentrechten auf dem Subkontinent wird seit vielen Jahren politisch wie vor Gericht gestritten. Viele Fragen gewinnen in der Pandemie ganz neue Bedeutung. Angesichts des Runs auf die ersten Corona-Impfstoffe und der Zeitnot wegen gefährlicher Virusmutationen richtet sich der Blick hoffnungsvoll auf freie Kapazitäten, wissenschaftlich-technische Expertise und Erfahrung.

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In den 1960er Jahren entstand der Wunsch nach einer einheimischen pharmazeutischen Industrie. Der Durchbruch folgte im nächsten Jahrzehnt. Ausgangsbasis war dabei der 1970 erlassene Patents Act, der Arzneimittel vom bisherigen strengen Patentrecht freistellte. Verbunden mit einem weiteren Gesetz zur Preiskontrolle und Importrestriktionen gab das den lokalen Herstellern den notwendigen Antrieb, die alsbald zahlreich auf den Markt drängten. Heutzutage sind es etwa 3000 Firmen, die in dem Sektor aktiv sind, die Zahl ihrer Produktionsstätten wird auf 10 500 geschätzt. Im Finanzjahr 2020 erfolgten von dort Arzneimittelexporte in einer Größenordnung von 16,8 Milliarden Dollar.

Bei der Generika-Produktion steht Indien seit Langem an der Spitze. Ob Präparate im Kampf gegen HIV/Aids, Krebs, Tuberkulose oder andere Krankheiten - die billigen Fabrikate, die oft eine Preisersparnis von 90 Prozent und mehr gegenüber dem »Original« namhafter Hersteller bieten, sind gerade für Abermillionen Menschen auf der Südhalbkugel ein echter Hoffnungsschimmer auf eine Linderung ihrer Leiden. 35 Jahre lang gab es in Indien de facto keinerlei Patente auf Arzneimittel. 2005 dann unterwarf sich das Land den Rahmenrichtlinien einer WTO-Vereinbarung. Doch wenngleich die vornehmlich in den USA und EU-Staaten ansässigen vehementen Verfechter des »Schutzes geistigen Eigentums« dies als Erfolg für sich feierten, sind sogenannte obligatorische Lizenzen gegen den Willen des Patentrechtsinhabers auch von den neuen Regularien ausdrücklich gedeckt. Gerade die sonst unrühmliche Praxis von »Kettenpatenten« - also die neue Anmeldung von Patenten nach dem Auslaufen der ursprünglichen - wird ausgehebelt. Mehrfach haben westliche Pharmaziekonzerne wie Bayer, Astra-Zeneca und Novartis vor indischen Gerichten in teils jahrelangen Verhandlungen um Patenschutz am Ende eine krachende Niederlage eingesteckt.

Der Schutz des Menschen – sehr bedingt. Die Forderung nach Freigabe der Patente von Impfstoffen muss sich an den Zielen relativieren, die Gesundheitspolitik real verfolgt

Der einheimische Sektor wuchs derweil weiter. Insbesondere das Serum Institute of India (SII) in der modernen Vier-Millionen-Stadt Pune ist heute mit Abstand größter Impfstoffhersteller weltweit. Das 20-Hektar-Areal unterteilt sich in zwei Werkskomplexe, wo derzeit 1,5 Milliarden Einheiten pro Jahr produziert werden können. Mit einer zusätzlichen Anlage werden die Kapazitäten gerade auf zwei Milliarden Dosen ausgeweitet. Im ganz großen Stil ist das SII auch bei den Corona-Impfstoffen im Boot. Einerseits wird mit Partnern an einem eigenen Vakzin geforscht, andererseits hatte sich CEO Adar Poonawalla frühzeitig mit Astra-Zeneca zusammengetan. Sein Institut ist damit als Partner weltgrößte Produktionsstätte des Astra-Zeneca-Präparats Covishield. Der rührige Firmenchef, der 2011 die Leitung von seinem Vater, SII-Gründer Cyrus Poonawalla, übernahm, hat 700 Millionen Dollar in den neuen Campus investiert, der gerade in Dienst gestellt wird. Es sind auch diese zusätzlichen Anlagen, die UN-Generalsekretär Antonio Guterres Ende Januar zu seinem Statement veranlassten, Indien sei »unser größter Trumpf«, was eine zügige Impfstoffproduktion betreffe.

Schon im November starteten Indien und Südafrika über die WTO eine Initiative, in der Corona-Krise Patentrechte temporär auszusetzen. Aktuell zirkuliert ein Aufruf, den über 200 Organisationen aus dem globalen Süden unterzeichnet haben und der vor allem die Blockierer in der EU (darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel) auffordert, die Patente der Impfstoffe freizugeben. Sollte dies geschehen, böten sich eben vor allem in Indien enorme Kapazitäten bei der Produktionsinfrastruktur, die sich schnell aktivieren ließen. Allein bei SII könnten locker weitere 500 Millionen Dosen noch dieses Jahr vom Band laufen, auch andere große Pharmafirmen verfügen über Reserven.

Im Fokus steht dabei nicht zuletzt die globale Covax-Initiative, die sichern soll, dass auch die ärmeren Länder bei der Verteilung der derzeit noch sehr begrenzt vorhandenen Impfstoffe nicht leer ausgehen. Indien hat in einem eigenen Hilfsprogramm bereits fünf Millionen Dosen für die regionalen Nachbarstaaten Afghanistan, Nepal, Bangladesch, Myanmar, Sri Lanka und die Malediven bereitgestellt. Auch mehrere karibische und südamerikanische Länder, darunter das bitterarme Haiti, sind unter den Empfängern einer weiteren Lieferung. Lokale Hersteller wie Biological E würden sogar vorrangig die Covax-Initiative beliefern. Insgesamt wäre die Patentfreigabe aber der Schlüssel, die Produktion im große Stil auszuweiten zu können. Hatte sich Premierminister Narendra Modi ab 2019 mit bilateralen Absichtserklärungen zum Patentrecht den USA etwas angenähert, macht die Regierung in Delhi nun wieder Druck in Richtung Gesundheitsschutz, Solidarität und globale Impfgerechtigkeit.

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