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Alle sind austauschbar

Ist die Stelle vakant, ersetzt man auch mal ein Gespenst: Hilary Leichter hat mit »Die Hauptsache« eine Satire über das flüchtige Arbeitsleben geschrieben

  • Isabella Caldart
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Götter erschufen die Erste Aushilfe, weil sie sich eine Pause gönnen wollten. »Hier sind unsere Passwörter und Zugangscodes«, sagten die Götter zu ihr, und später wiesen sie die Erste Aushilfe an, einen Dornbusch zu entzünden - den sie danach wieder in seinen ursprünglichen Zustand bringen sollte. »Und so lernte sie den Stumpfsinn des Machens und Rückgängigmachens«, heißt es in »Die Hauptsache« von Hilary Leichter. Diese Legende ist Teil des Debütromans von Leichter, deren Texte unter anderem in »New York Times«, »n+1« und »New Yorker« veröffentlicht worden sind.

Der übergreifende Handlungsrahmen des in viele kürzere Episoden aufgebauten Romans erzählt von einer namenlosen Protagonistin, die, wie zuvor schon ihre Mutter und Großmutter, von einem Gelegenheitsjob in den nächsten schlittert, und die den Stumpfsinn, den bereits die Erste Aushilfe erfahren musste, nur zu gut kennt. Gleich, welcher Arbeit sie gerade nachgeht, hat sie nur einen Wunsch: Beständigkeit, die Entfristung, sprich eine Vollzeitstelle. Ganz egal, wie diese Arbeit inhaltlich aussähe. »Mein Traumjob ist ein Job, der bleibt«, hält sie gleich zu Beginn des Romans fest. Ein nahezu aussichtsloser Traum: »Die Beständigkeit macht einen großen Bogen um mich, und ich kann einfach nichts dagegen tun. Wenn sich mir ein Job anbietet, muss ich ihn nehmen.«

Vom Piratenschiff zum Auftragsmörder

Dass »Die Hauptsache« keine deprimierende Sozialstudie über das Leben im Hamsterrad ist, sondern die Suche nach der Festanstellung eine erstaunlich leichte und witzige Lektüre ausmacht, liegt vor allem an zwei Faktoren. Zum einen beweist Hilary Leichter großen Sprachwitz - die Alliterationen, Reime und umgangssprachlichen Ausdrücke sind gekonnt von Gregor Runge ins Deutsche übertragen. Zum anderen hat Leichter eine surreale Szenerie entworfen: Die Ich-Erzählerin übt nämlich keine gewöhnlichen Jobs aus. Sie heuert auf einem Piratenschiff an und arbeitet mit einem Team zusammen, das früher in der Onlinepiraterie zugange war, sie öffnet und schließt in regelmäßigen Zeitabständen sämtliche Türen in einem Haus, bis sie begreift, dass sie ein Gespenst ersetzt, und sie muss die Asche eines verstorbenen Vorstandsvorsitzenden in einem Medaillon immer bei sich tragen, damit er alles sieht, schließlich war er zu Lebzeiten »ein Mann von Welt« und »das soll auch so bleiben«. Sie geht einem Auftragsmörder zur Hand, sie arbeitet als menschliche Seepocke, und am Ende wird sie sogar Ersatzmutter. Ihre Rollen übernimmt sie mit voller Hingabe, teilweise über den eigentlichen Auftrag hinaus. »Ich habe dir Arbeit versprochen, keine Familie«, bremst sie der kleine Junge aus, für den sie temporär eine Mutterfunktion ausüben soll. Die Fragen, die aufgeworfen werden, lauten: Definieren die Jobs, wer wir sind als Person? Und lassen wir das zu? Was macht die eigene Identität aus?

Aber nicht nur ihre Arbeit und ihre Arbeitsbeziehungen sind temporär, auch die festen Freunde sind auf ihre Funktionen reduziert, der ernste Freund, der praktische und der koffeinsüchtige, der Immobilienmaklerfreund und der kulinarische Systemanalytiker, insgesamt achtzehn an der Zahl. Die Freunde aber spielen da nicht mehr mit, verbünden sich gegen sie und machen ihre Wohnung kurzerhand zu ihrem Treffpunkt, an dem sie gemeinsam, ohne die Protagonistin, abhängen.

Lebensrealität als Märchen

»Die Hauptsache« liest sich surreal und fast märchenhaft, und mit der Geschichte um die Genese der Ersten Aushilfe hat Leichter auch ihre eigene Mythologie erschaffen. Und doch bleibt der Roman erstaunlich nah an der Lebensrealität vieler Millennials, die sich von einem Job zum nächsten hangeln. Der Autorin gelingt die Balance zwischen den ernsten Tönen des Themas und witzig-sarkastischen Szenen, ohne platte Gags zu machen oder dem Roman eine bierernste Schwere zu verleihen.

Bei all dem Witz, der Skurrilität und Metaphorik kritisiert Hilary Leichter aber auch immer wieder unser neoliberales Arbeitssystem. »Spielt es eine Rolle, wer den Fraß gemacht hat, den ein anderer serviert? Spielt es eine Rolle, wer das Kleid genäht hat, das eine andere trägt?«, wird die Protagonistin in einem ihrer Jobs gefragt, in dem sie die Lorbeeren ihrer Vorgängerin einheimst. »Die Frau, die den Job zu Ende gebracht hat, hat den Job erledigt.« Alle sind austauschbar und wer die letzten zwei von hundert Schritten geht, nur der bekommt die Aufmerksamkeit, während die Arbeit der anderen unsichtbar gemacht wird. »Die Hauptsache« ist eine Fabel des Spätkapitalismus über die Entmenschlichung der Arbeitskraft, wo nur Profitabilität und Performance zählen und jede Arbeit befristet ist (passender ist der Titel im Original: »Temporary«).

Als Hilary Leichter ihren Roman verfasste, konnte sie von der Gesundheitskrise rund um das Coronavirus natürlich nichts ahnen - und doch trifft »Die Hauptsache« in einer Zeit, in der das Leben heruntergefahren ist, die Wirtschaft weltweit am Boden liegt, Jobs so prekär sind wie schon lange nicht mehr und eine Aussicht auf Besserung erst einmal nicht in Sicht ist, einen ganz bestimmten Nerv. Es gibt immer diesen einen Film, diesen einen Roman, der zufällig genau passend zu einem großen Ereignis veröffentlicht wird. »Die Hauptsache« ist so ein Buch.

Hilary Leichter: Die Hauptsache. A. d. Engl. v. Gregor Runge, Arche, 224 S., geb., 20 €.

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