»Wir sind keine Phantasten, sondern Realpolitiker«

Warum Rosa Luxemburg Genossenschaften im Kapitalismus als ein merkwürdiges »Zwitterding« ansah

  • Wolfram Klein
  • Lesedauer: 4 Min.

In den letzten Jahren ist der von Rosa Luxemburg geprägte Begriff von der »revolutionären Realpolitik« von manchen Linken gern verwendet worden. Leider sagen jene fast nie, in welchem Kontext sie ihn verwendet hat. Vermutlich wissen es viele nicht. Tatsächlich hängt der Begriff mit der Auseinandersetzung um den utopischen Sozialismus zusammen. In einem Gedenkartikel zum 20. Todestag von Karl Marx hatte Rosa Luxemburg geschrieben: »Es gibt erst seit Marx und durch Marx sozialistische Arbeiterpolitik, die zugleich und im vollsten Sinne beider Wörter revolutionäre Realpolitik ist. [...] Die Geschichte der Arbeiterbewegung von Anfang an ringt sich hindurch zwischen dem revolutionär-sozialistischen Utopismus und der bürgerlichen Realpolitik.« Revolutionäre Realpolitik bedeutete für sie also keineswegs eine Versöhnung zwischen Revolution und bürgerlicher Realpolitik, sondern eine doppelte Abgrenzung: gegenüber utopischem Sozialismus und bürgerlicher Politik.

Dass die Überwindung des Kapitalismus keine leichte Aufgabe ist, wusste Rosa Luxemburg. Und wissen wir nach den Erfahrungen der letzten gut 100 Jahre umso mehr. Zu allen zerstörerischen Tendenzen, die schon Rosa Luxemburg analysiert hat, ist in den letzten Jahrzehnten die Klimakatastrophe gekommen. Und es wird auch immer deutlicher, dass die Zerstörung der Naturräume die Gefahr von Pandemien wie Corona befördert. Was heißt also Realpolitik? Auf ein menschenwürdiges Leben im Kapitalismus zu hoffen oder für seine Überwindung zu kämpfen?

Wenn heute der Begriff »revolutionäre Realpolitik« gebraucht wird, so oft in Annäherung an die von Rosa Luxemburg verworfene bürgerliche »Realpolitik«. Dass ihre »Realpolitik« hingegen nicht im Verzicht auf sozialistische Ziele, sondern im Verzicht auf Illusionen über den Kapitalismus bestand, zeigt unter anderem eine Rede von 1914, in der sie sagte: »Wir sind keine Phantasten, sondern Realpolitiker: So täuschen wir niemanden darüber, dass der Zustand des ewigen Friedens erst dann eintreten kann, wenn der Kapitalismus ausgerottet ist.« Sie warnte vor »Rückfällen« in den utopischen Sozialismus. Wahrscheinlich hat sie dabei auch an Illusionen gedacht, die manche in dem Beitrag von Genossenschaften bei der Überwindung des Kapitalismus sahen.

Dazu schrieb sie bereits 1899: »Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so stellen sie ihrem Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im Kleinen sozialistische Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalistischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht angesichts der Konkurrenz rücksichtslose Ausbeutung, d. h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Worte, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Grunde geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst.«

Aus diesem Zwittercharakter ergaben sich für Rosa Luxemburg die begrenzten Möglichkeiten für Genossenschaften im Kapitalismus. Was Rosa Luxemburg damals über Genossenschaften schrieb, gilt aber auch ähnlich für andere Versuchen, in den Nischen des Kapitalismus eine alternative Lebensweise zu praktizieren, wie sie etwa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bei manchen populär wurden. Sei es, dass man sich in den Dschungel zurückzieht wie Zapatist*innen im mexikanischen Chiapas oder das Internet als demokratische Plattform glorifiziert. Revolutionäre Realpolitik im Sinne Rosa Luxemburg ist dies nicht.

Wolfram Klein, Jg. 1967, lebt in Stuttgart, betreibt die Webseite Sozialistische Klassiker 2.0. und ist Mitglied im Bundesvorstand der Sozialistischen Organisation Solidarität - Sol. Von ihm erscheint Mitte März im Manifest-Verlag »Rosa Luxemburg. Ihre politischen Ideen« (330 S., br., 14,90 €).

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