Der Rabe im Kofferraum

Staunen und schallendes Gelächter: Géza Szőcs erzählt Geschichten aus Siebenbürgen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

In Klausenburg geht es wundersam zu. Wobei zunächst gesagt werden muss, dass diese Stadt, einst zu Österreich-Ungarn gehörig, nach dem Ersten Weltkrieg zu Rumänien kam und heute unter dem Namen Cluj-Napoca die zweitgrößte Stadt dort ist.

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GézaSzőcs: Untergrundfürsten. Geschichten aus Siebenbürgen.
A. d. Ungar. u. m. einem Nachwort v. Hans-Henning Paetzke. Illustr. v. Andrea Jánosi. Mitteldeutscher Verlag, 128 S., geb., 20 €. •

Géza Szőcs (1953-2020) aber beschwört eine Vergangenheit herauf, wie sie unter den Augenscheinlichkeiten der Gegenwart wohl spürbar bleiben kann. Diese Ebene des Märchenhaften entfaltet beim Lesen einen solchen Sog, dass man dieses Klausenburg unbedingt einmal sehen möchte. Freilich dürfte es schwer sein, unterhalb der Elisabethstraße eine Parzelle des Gartens Eden zu finden, wo in einem Affenbrotbaum ein Gorilla namens Adam turnt, umgeben von Paradiesvögeln und einem Zauberhirsch. Die Straße wird anders heißen, aber interessant wäre doch, was heute dort noch zu sehen ist.

Wundersam schön die leuchtend farbigen Bilder von Andrea Jánosi: surreale Gemälde, die voller Gewissheit behaupten, dass nichts unmöglich ist. Die Zeiten verschränken sich, Reales und Erdachtes leben in schönstem Einvernehmen. Da sind sich der Schriftsteller und die Illustratorin mit den Lesenden wohl einig: bloß kein naturalistischer Realismus. Nicht nur, dass er trübselig macht, er könnte zu einer Katastrophe führen wie in der inzwischen entvölkerten Stadt Bakaucis. Dort verwandelte sich das »Theater der Realität« in eine Mordstätte, weil die Wirklichkeit selbst auf die Bühne gestellt werden sollte. »Wurde der Othello auch nur zehnmal im Monat gegeben, mussten zehn Desdemonas her.« Da passte es gut, dass sich das Theater nahe der Bahnstation befand. Gelockt auf die Bretter, die die Welt bedeuten, war es für Möchtegern-Mimen mit der Ruhmsucht oft schnell vorbei.

Der Dichter János Sziveri (1954-1990), mit dem sich Géza Szőcs hier in einem imaginären Gespräch befindet, war ein Freund. Tatsächlich habe er ihn immer wieder mit seinen Geschichten aus Siebenbürgen aufzuheitern versucht, um ihm »Lebensmut zu machen, positive Phantasie zu entfachen, die Seelenstärke zu stützen«. Da soll es zum Beispiel einen Bach geben, der aufwärtsfließt. Und die Forellen?, fragt Sziveri. »Nun ja, auch bei den Forellen gibt es zwei Arten. Die einen schwimmen mit dem Strom nach oben, die anderen gegen den Strom, abwärts. Ich weiß nicht einmal, welche es leichter hat.« Ernstes Gesicht und ein Lachen in den Augenwinkeln. So sitzt uns der Autor gegenüber und freut sich über unsere Bewunderung.

Transsilvanien, das ist doch der Ort, wo Graf Dracula …? Ja, freie Daker gibt es dort noch. Und nachts fährt mitunter ein schwarzer, unbeleuchteter, mit Vorhängen verhängter herrschaftlicher Wagen über die Landstraßen. Mit einem Vampir am Steuer? »Nein, nur ein kleiner schwarzer Fuchs mit einer Pfeife im Mund.« Rochus Rot von Rochusdorf soll er heißen. Und im Kofferraum? »An ungeraden Tagen fliegt dort ein schwarzer Rabe hin und her, im Schnabel einen Brief, in dem Herzog Ladislaus um die Hand von Elisabeth Szilágyi anhält. Gerichtet ist der Brief an die Mutter von König Matthias Corvinus, adressiert an dessen Geburtshaus in Klausenburg. Dieser Fuchs war früher Dirigent. Einmal erstand er eine Sirene, die er nach Klausenburg mitnahm …« Was sich an ungeraden Tagen im Kofferraum befindet, ist so unvorstellbar schrecklich, dass Géza es János keinesfalls offenbaren wird.

»Jemand sagte einmal von dir, du seist der Untergrundfürst. - Pfff, das solltest du nicht verbreiten, wenn du nicht willst, dass sie mich erschießen … Weißt du, nachdem die Rákóczis ausgestorben sind, herrschen in Siebenbürgen die unsichtbaren Fürsten.« Was für eine köstliche Geschichte schließt sich da an über einen Mann, der in einem Bahnwärterhaus in den Bergen wohnt und sich jeglicher Fahndung entzieht. »Sein Haus ist gewissermaßen eine Verschmelzung von Möbiusband und vierdimensionalem Irrgarten. Wenn jemand dort eintritt, hat er kaum eine Chance, je wieder gesehen zu werden.«

Haben wir es hier mit bitteren Satiren zu tun, die Ceausescu-Zeit betreffend, als auch dieser Autor überwacht und eingesperrt wurde? Offensichtlich ist der Spott, wenn zum Beispiel ein übereifriger Parteibezirkssekretär zwecks Übererfüllung des Plans die Zeit verändern will oder wenn er wegen allgemeinen Lebensmittelmangels anordnet, dass auf dem Friedhof Gemüse angebaut werden soll. Mit dem Ergebnis, dass von der Luft aus der Schriftzug »Nieder mit dem großen Führer« zu lesen ist.

Géza Szőcs ist 1986 in die Schweiz gegangen, kehrte 1990 nach Cluj zurück und engagierte sich in der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien, für die er bis 1992 im Senat saß. Von 1993 an lebte er in Ungarn, wo er eine Zeit lang sogar Staatsminister für Kultur gewesen ist. Was er in dieser Funktion wollte - wir können ihn nicht mehr fragen. Am 5. November 2020 ist Géza Szőcs in Budapest an den Folgen von Covid-19 gestorben.

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