Der Mensch blieb

Einer war’s Nr. 272

  • Lotte Laloire
  • Lesedauer: 3 Min.

Geboren wird die gesuchte Person im Jahr 1919 in eine liberale jüdische Familie in Turin. Die Eltern lesen viel, sind gebildet. Ein Jahr früher als andere kommt das Kind aufs Gymnasium. Es ist das jüngste, kleinste und cleverste. Zwei Antisemiten mobben den Jungen. 1932 beginnt die Talmud-Tora-Schule, 1933 folgt der Eintritt in die faschistische Jugendbewegung, weil das so erwartet wird. Trotz Gängelungen und Hürden studiert er und wird ein herausragender Chemiker. Zudem ist er ein leidenschaftlicher Wanderer. 1943 gründet er mit Freunden eine Partisanengruppe. Schon nach weniger als einem halben Jahr nehmen die faschistischen Schwarzhemden sie fest. Als er erfährt, dass Partisanen erschossen werden, gesteht er, Jude zu sein, und wird daraufhin ins Internierungslager Fossoli nahe Modena gesperrt.

All die Informationen über sein frühes Leben und seine Verdienste um die Chemie werden im englischen Wikipedia-Eintrag mit mehr als 10 000 Zeichen gewürdigt, nicht aber im deutschen, der bis hierhin gerade einmal 1200 Zeichen umfasst. Der deutsche Artikel wird erst ab Auschwitz gründlicher. Dorthin wird der jüdische Partisan am 21. Februar 1944 zusammen mit 650 anderen deportiert. Aus dieser Gruppe überleben 20 Menschen. In Monowitz, einem der drei Hauptlager des Auschwitz-Komplexes, wird der 24-Jährige zu Nummer 174 517. Es ist das erste privat finanzierte Konzentrationslager der Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG, kurz IG Farben, einem Zusammenschluss von acht deutschen Unternehmen, darunter Agfa, BASF, Bayer, Höchst. Angesichts der Lebenserwartung von drei bis vier Monaten ein Wunder, doch Häftling 174 517 überlebt. Sofort nach seiner Rückkehr notiert er seine Erfahrungen. Sein Bericht ist detailliert und umfassend zugleich. Es geht darin um die dünne Suppe, das notwendige Stehlen, den Krankenbau, das Leeren des Urineimers, die Selektionen für den »Kamin«. Indem er die Grenzen der Sprache reflektiert, schafft er es, schier Unbeschreibliches zu beschreiben: »Ebenso wie unser Hunger nicht mit der Empfindung dessen zu vergleichen ist, der eine Mahlzeit verloren hat, verlangt auch unsere Art zu frieren nach einem eigenen Namen. Wir sagen ›Hunger‹, wir sagen ›Müdigkeit‹, ›Angst‹ und ›Schmerz‹, wir sagen ›Winter‹, und das sind andere Dinge. Denn es sind freie Worte, geschaffen und benutzt von freien Menschen.«

Auch die in der Erinnerungsliteratur eher selten thematisierte »Grauzone« zwischen Opfern und Tätern, zum Beispiel die Lagerfunktionäre, die Brutalität und die Schwäche der Verlorenen sowie die Eigenschaften der Geretteten analysiert er genau. Dreh- und Angelpunkt seines 1947 erschienenen Buchs ist die Frage, ob der Häftling ein Mensch ist. »Im KZ waren wir in der Hölle, zu Tieren erniedrigt; nur ganz vereinzelt gab es noch Menschen - davon will ich erzählen.« Etwa von seinem Freund Lorenzo. Dank seiner reinen und unangetasteten Menschlichkeit »war es mir vergönnt, dass auch ich nicht vergaß, selbst noch Mensch zu sein …« Kurz vor der Befreiung des Lagers erkrankt er an Scharlach. Die SS schickt ihn nicht auf den Todesmarsch, auf dem rund 20 000 Menschen, auch sein Freund Lorenzo, verenden.

Mit seinem Bericht will der ehemalige Häftling keine »Anschuldigung« vorbringen, vielmehr »Dokumente für eine leidenschaftslose Untersuchung einiger Aspekte des menschlichen Geists liefern«. So sehr der Autor auf Urteile oder Gefühlsäußerungen verzichtet, so starke Gefühlsregungen löst das Lesen aus. Dieses Zeugnis erlaubt keine normale Lektüre, es verändert etwas in den Lesenden als Menschen. Der Auschwitz-Überlebende arbeitet noch viele Jahre als Chemiker und Schriftsteller.

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