»Laß sie für diese Reise büßen«

Andreas Maiers Roman »Die Städte« ist ein Anti-Reisebuch

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Wie dunkles, schweres Blei fühlte sich die Erinnerung an die ersten Reisen des jungen Ich-Erzählers Andreas an. Der Grund? Um den Staus an den Autobahnkreuzen zu entgehen, fuhr seine Familie bereits in aller Herrgottsfrühe in einem voll bepackten dicken Benz in den jährlichen Sommerurlaub nach Brixen. »So könnte man auch von zu Hause flüchten, wenn Krieg ausgebrochen wäre. Als würde es ums Überleben gehen«, erinnert sich Andreas. Es ging zwar nicht ums Überleben, aber eine Herausforderung waren die Urlaube für den soziophoben Jungen allemal. Reisen - das kommt ihm vor wie »verstoßen sein«, wie »in die Welt hinausmüssen«. Er durchstand die unüberschaubar lange Zeit des Urlaubs nur mit einem Köfferchen voll mit Asterix-Heften. Diese las er langsam und portioniert, damit sie möglichst lange vorhalten.

In Andreas Maiers neuem Roman »Die Städte«, dem achten Band der auf elf Bände angelegten autofiktionalen Romanreihe »Ortsumgehung«, geht der Ich-Erzähler auf Reisen. Er tut dies, wie die ersten Reiseerinnerungen an die Fahrt nach Südtirol schon andeuten, nicht gern. Und das ändert sich in den weiteren Kapiteln, in denen der Protagonist nach Athen, Biarritz, Oulx und Weimar fährt, nicht wesentlich. In der italienischen Gemeinde Oulx will er sich sogar umbringen. Maier versammelt somit keineswegs Reiseberichte, sondern nutzt die Reisen zur Erkundung des eigenen Ichs. Ganz nebenbei werden dabei durch den genauen Beobachter Maier Veränderungen des touristischen Reisens der letzten Jahrzehnte nachgezeichnet.

Diesen Band hätte man nach dem Vorgängerbuch »Die Familie« (2019) nicht unbedingt erwartet. In dessen Zentrum stand ein dunkles Familiengeheimnis: die Verstrickung der Familie in den Nazifaschismus. Sie profitierte durch Arisierung; erst dadurch konnten sie den schönen Schein von Eigenheim und Bürgerlichkeit aufbauen, hinter dem sich Lügen und Schweigen verbargen. In »Die Städte« wird die Schuld der Elterngeneration nur an einer Stelle angedeutet. Einmal geht Andreas auf den Friedhof, um dort wie immer ein paar Grabsteine auswendig zu lernen. »Daß es dort keine jüdischen Grabsteine gab, fiel mir zu dieser Zeit nicht einmal auf.«

Nun also das Reisen, etwa nach Athen. Die letzte Reise mit den Eltern. Dort nabelt er sich ab, lässt den Eltern das typische touristische Pflichtprogramm absolvieren, während er in der Bar lernt, Ouzo zu trinken. Der Vorsatz für diese Reise lautet: »Sei so anstrengend wie möglich. (...) Laß sie für diese Reise büßen.« Wie er das im Einzelnen umsetzt, wird allerdings nicht ausgeführt. Hier zeigt sich Maiers Arbeitsweise beim Schreiben. Ihm geht es im Gegensatz zu anderen autofiktionalen Romanprojekten nicht um Vollständigkeit, sondern um einzelne Motive. Notwendiges Mittel dabei ist die Auslassung. Die detaillierten Szenen der Autoreise nach Brixen oder des Ouzo-Trinkens in Athen gehören mit zum Stärksten in dem Band, der - wie die anderen auch - ohne Kenntnis der anderen Teile der »Ortsumgehung« gelesen werden kann.

Sehr gelungen ist auch das ungewöhnliche Kapitel »Bangkok, Friedberg, Marrakesch«. Ungewöhnlich, weil es nicht der Altphilologie studierende Andreas ist, der Fernreisen unternimmt, sondern die Kommilitonin Astrid. Ihr Freund ist Angestellter einer Fluggesellschaft und hat dadurch die Möglichkeit, oft und günstig mit Astrid zu verreisen. Diese trifft sich dann mit Andreas, um ihm von ihren Reiseerlebnissen zu berichten - das Durchschauen unzähliger Fotos inbegriffen. Das lässt schon bald eine Missstimmung zwischen den beiden entstehen. Andreas ist interessiert an weiteren Informationen zu den abgelichteten Sehenswürdigkeiten. Astrid erwartet nur, dass er ihre Ausrufe wie »Hier, das war schön« bestätigt.

Zum Schluss ist der Protagonist bereits über 30, hat seinen ersten Roman veröffentlicht und ist zu einer Lesung in Weimar eingeladen. Nach anfänglichen Passagen, die sich wie ein Reiseessay lesen, wird ein Naziaufmarsch beschrieben und die übellaunigen Reaktionen der Einheimischen - nicht etwa auf den Naziaufmarsch, sondern auf Andreas’ Reaktion, die darin besteht, zu sehr herumzuschauen.

So macht Reisen tatsächlich keinen Spaß. Im Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Andreas Maier übrigens, dass er 1995 die letzte touristische Reise unternommen habe. Nach der Lektüre von »Die Städte« verwundert das nicht.

Andreas Maier: »Die Städte«, Suhrkamp, geb., 190 S., 22€.

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