Figurenstreik

Am Schauspielhaus Bochum feiert ein entstaubter »Peer Gynt« seine Online-Premiere

Henrik Ibsens Titelheld Peer Gynt ist ein ewiger Fantast. Er ist der dramatische Beweis dafür, dass »Fake News« kein Phänomen ausschließlich der jüngsten Vergangenheit sind. Nur der Name ist neu. Peer Gynt, der Ausgestoßene, kämpft um seinen Platz in der Gesellschaft. Seine Traumreisen sind zunächst Fluchtstrategie, aber auch bereits angriffslustiges Manöver und eindrücklich präsentiertes Zeichen der eigenen Stärke. Dem jungen Peer, der sich kaum vom Mutterschoß lösen kann, ist Rücksicht fremd. Seine Prahlereien sind nur der erste Schritt - so ist es in dem fünfaktigen Drama angelegt -, Missbrauch ist der folgende.

»Nora«, »Hedda Gabler«, »Die Frau am Meer« - das sind die Titel der Stücke, für die Ibsen auch bekannt ist und die deutlich machen, dass Frauen nicht zwangsläufig zu Nebenfiguren degradiert werden müssen. Als einer der bedeutendsten Vertreter des im 19. Jahrhundert aufkommenden Naturalismus - zeitweise kursierte der Begriff Ibsenismus - hat der norwegische Dramatiker die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Krankheiten mikroskopisch betrachtet und etwa die überkommenen Vorstellungen von Ehe zum Thema gemacht. Ibsens »Peer Gynt«, bereits 1867 verfasst, beruht auf einem anderen Modell und macht es Künstlern wie Publikum heute etwas schwerer. Das Stück - nicht zu Unrecht als nordischer »Faust« klassifiziert - scheut die Fantastik nicht, Begegnungen mit Trollen und einer Sphinx fügen sich ein. Auch in »Peer Gynt« bleibt der Blick auf die gesellschaftlichen Realitäten nicht aus: kapitalistische Gier, die vor Menschenhandel nicht Halt macht, Misogynie und kolonialistischer Blick. Und bei alledem strotzt der Dramenheld vor Kraft und Männlichkeit. Wie lässt sich das heute noch auf die Bühne heben: ersehnte weibliche Unschuld, Gnade und Verfügbarkeit, ein männliches Prinzip des Zugreifens?

Am Schauspielhaus Bochum, wo der aus Tschechien stammende Regisseur Dušan David Pařízek mit einem jungen siebenköpfigen Schauspielerensemble Ibsens dramatisches Gedicht erarbeitet hat, sind es vor allem solche Fragen, die die sehr musikalische Inszenierung bestimmen. Darin liegt auch der Grund, warum in den ersten drei Akten alle Frauenrollen von Männern und vice versa gespielt werden, sieht man von der Figur der Solveig, Objekt von Peers Begierde, einmal ab. Auf knapp zwei Stunden komprimiert, wenn auch nicht ganz ohne Längen, werden dem Zuschauer gespiegelt und gebrochen Männergesten vor allem von der beeindruckend souveränen Darstellerin Anna Drexler, die die Titelfigur gibt, vorgeführt. Die gesamte Inszenierung ist als Zuspitzung und gewinnbringende Verknappung des verworrenen Ibsenschen Dramas zu verstehen. Die Konflikte des Stücks werden ernst genommen, aber nicht bis zur Unerträglichkeit wiederaufgeführt - jedenfalls nicht, wie auf dem Papier geschrieben. Die Bochumer Bühnenarbeit ist auch eine Art Notwehr gegen die Wiederholung des Überkommenen. In einem Nachgespräch zur Premiere am vergangenen Sonnabend machte Pařízek allerdings klar, dass das künstlerische Team sich klar gegen Entschärfungen ausspricht und den »Peer Gynt«-Stoff als Herausforderung begreift.

Bei der live gespielten und im Stream verfolgbaren Premiere bleibt etwa die Figur der Anitra, die Tochter des Beduinenhäuptlings, nicht stumme Zeugin ihres eigenen Missbrauchs durch Peer. Die Schauspielerin Mercy Dorcas Otieno entleiht ihre wortmächtige Erwiderung der ghanaischen Schriftstellerin Ama Ata Aidoo. Für das wirklich mehr als bedenkliche Stückende - Solveig wartet, fromm und brav, Jahrzehnt um Jahrzehnt auf die Wiederkehr von Peer - wird eine Alternative gesucht und auch gefunden. Die Schauspielerin Anne Rietmeijer erteilt dem versöhnlichen Dramenschluss eine Absage: Sie hat, den Ibsenschen Vers aufnehmend, ein neues Ende gedichtet, einen Abgesang auf den männlichen Blick des Dramenkanons, eine Weigerung, noch einmal zu spielen, was vorbei sein muss. Endlich ein Streik im Theater, eine Bühnenemanzipation. Ein Happy End, wenn auch nicht für alle.

Nächste Livestream-Vorstellung am 15. Mai

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal