• Politik
  • Urteil zum Klimaschutzgesetz

Erst belächelt, jetzt im Recht

Das deutsche Klimaschutzgesetz ist laut Bundesverfassungsgericht in Teilen nicht vereinbar mit dem Grundgesetz

  • Hannah Schröer
  • Lesedauer: 4 Min.

Sophie Backsen ist einen Meter unter dem Meeresspiegel großgeworden. Ihre Eltern betreiben einen Biobauernhof auf der kleinen Nordseeinsel Pellworm, eine halbe Stunde Fährfahrt vom schleswig-holsteinischen Festland entfernt. Aktuell studiert Backsen Agrarwissenschaften in Kiel. In der Stadt hält sie aber nicht viel. Wenn sie ihr Studium beendet hat, könnte sie sich vorstellen, zurück nach Hause zu gehen, irgendwann sogar den Hof der Eltern zu übernehmen. Nur ob man dann noch gut Öko-Landwirtschaft auf Pellworm betreiben kann?

Backsen hat aus dieser Sorge heraus gemeinsam mit ihren drei Geschwistern und weiteren Kläger*innen Verfassungsbeschwerde gegen das aus ihrer Sicht zu schwache deutsche Klimaschutzgesetz eingelegt, nachdem ihre Eltern bereits mit einer Klimaklage gescheitert waren. Das Gesetz sieht vor, dass die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 sinken müssen. Es legt dafür Reduktionspfade für einzelne Wirtschaftssektoren fest. Unter Backsens Mitstreiter*innen ist auch die Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer. Drei weitere Klagebündnisse hatten Beschwerde eingelegt.

Das Bundesverfassungsgericht hat am Donnerstagmorgen geurteilt und den Kläger*innen teilweise recht gegeben: Das Klimaschutzgesetz sei in Teilen nicht mit den Grundrechten vereinbar. »Die Vorschriften verschieben hohe Emissionsminderungslasten unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030«, hieß es von den Richtern.

Das Grundgesetz schützt »auch in Verantwortung für die künftigen Generationen« die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere, hieß es zur Urteilsbegründung aus Karlsruhe. In Bezug auf den Klimaschutz bedeute das, die Erderwärmung dem Ziel des Pariser Weltklimaabkommens entsprechend auf deutlich unter zwei Grad und möglichst sogar 1,5 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen. »Um das zu erreichen, müssen die nach 2030 noch erforderlichen Minderungen dann immer dringender und kurzfristiger erbracht werden«, ließ das Gericht wissen. »Von diesen künftigen Emissionsminderungspflichten ist praktisch jegliche Freiheit potenziell betroffen, weil noch nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens mit der Emission von Treibhausgasen verbunden und damit nach 2030 von drastischen Einschränkungen bedroht sind.«

Diese Freiheitsrechte könnten allerdings nur Einzelpersonen einklagen, stellte das Gericht fest, nicht aber Verbände. An einer Klage waren auch die Umweltorganisation BUND und der Solarenergie-Förderverein direkt beteiligt.

Bis Ende 2022 muss der Gesetzgeber jetzt einen Fahrplan für die Emissionsreduzierung ab 2031 vorlegen. Für die Zeit vor 2030 hat das Gericht die zu starke Freiheitsbeschränkung nicht bestätigt. Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) fasst das Urteil deshalb sogar als »Rückenwind« für ihre Politik auf. Karlsruhe bestätige den Mechanismus des Klimaschutzgesetzes und der jährlich sinkenden Klimaziele für alle Sektoren. »Das Verfassungsgericht gibt dem Gesetzgeber einen klaren Auftrag, auch über das Jahr 2030 hinaus klare gesetzliche Vorgaben für den Weg zur Klimaneutralität zu schaffen.«

Praktisch dürfte das Urteil allerdings durchaus die Klimapolitik in diesem Jahrzehnt noch betreffen - es sei denn, die Politik kann darlegen, wie sie die Freiheitsrechte nach 2030 trotz mehr oder weniger aufgebrauchtem CO2-Budget sichern will. Kern der juristischen Argumentation ist schließlich, dass die aktuelle Planung Freiheitsbeschränkungen in der Zeit danach erwarten lasse.

Explizit greift das neue Urteil beispielsweise den späten deutschen Kohleausstieg und den gebremsten Ausbau der erneuerbaren Energien nicht an. Mittelbar stellt es die entsprechenden Gesetze aber doch auf den Prüfstand. Die Umweltministerin verwies darauf, dass durch die kürzliche Anhebung des EU-Klimaziels für 2030 ohnehin auch die Anpassung auf deutscher Ebene anstehe, unabhängig vom aktuellen Urteil.

Die Kläger*innen sind dennoch euphorisch. Als »bahnbrechend« bezeichnete Anwalt Felix Ekardt, der eine der Verfassungsbeschwerden begleitet hat, das Urteil. »Das ist die erste Umweltklage, die vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg hat«, sagte er am Donnerstag. Von einem »unfassbar großen Tag für ganz viele und vor allem für die jungen Menschen, die seit drei Jahren für ihre Zukunft auf die Straße gehen«, sprach Luisa Neubauer. »Wir wurden belächelt, ausgelacht, diskreditiert - und jetzt spricht uns ein Gericht Recht zu.« Für die Klimabewegung bedeute das, dass sie »jetzt mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein eine 1,5-Grad-Politik fordern« könne.

»Das Bundesverfassungsgericht hat im Grunde fast alle Erwartungen übertroffen«, sagte die Anwältin Roda Verheyen, die Neubauer und ihre Mitkläger*innen vertritt. »Die Zeit für politische Klimaziele ist vorbei, sie müssen sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren.« Das Urteil bedeute, dass die Bundesregierung einen plausiblen Reduktionspfad bis zur Klimaneutralität vorlegen muss. Verheyen geht auch von einer internationalen Wirkung aus, denn weltweit laufen zahlreiche Klimaklagen. »Dieses Urteil wird den neuen Maßstab setzen.«

Auch Linke und Grüne im Bundestag freuen sich über den Gerichtsbeschluss. »Das Urteil ist ein richtungsweisender Kracher für mehr Klimagerechtigkeit«, sagte der Linke-Politiker Lorenz Gösta Beutin. »Das Gericht macht der sträflichen Trippelschritt-Klimapolitik der Bundesregierung endlich Beine.« Lisa Badum von den Grünen erklärte: »Wir haben nun den Beleg vom Bundesverfassungsgericht, dass die Bundesregierung zu schlechte Klimapolitik macht.«

Auch Familie Backsen ist zufrieden. »Wir sind superglücklich und erleichtert über die Entscheidung des Gerichts«, sagte Sophie Backsen nach der Urteilsverkündung. Vielleicht bleibt die Bio-Landwirtschaft zu Hause auf Pellworm ja doch noch eine Möglichkeit.

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