Wut wegen Willkür und Benachteiligung

Palästinenser protestieren gegen geplante Häuserräumung in Ost-Jerusalem, mehr als 200 werden verletzt

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Lage geriet erneut außer Kontrolle, nachdem Zehntausende zum Ende des Fastenmonats Ramadan zum Samstagsgebet auf dem Haram Al-Scharif, dem Tempelberg, zusammengekommen waren. Und wie schon in den Tagen zuvor standen am Anfang ein paar Worte, einige wenige Handbewegungen, die dann rasend schnell zu einem Flächenbrand führten: Ein paar palästinensische Jugendliche wechseln ein paar böse Worte mit israelischen Grenzpolizist*innen, die dann die Jugendlichen zurückdrängen; Steine werden geworfen, Tränengas abgeschossen. Am Ende zählte der Rote Halbmond, eine Partnerorganisation des Roten Kreuzes, 90 Verletzte, allesamt Palästinenser*innen; am Tag zuvor waren es 200 – so schlimm war es in Jerusalem schon seit Jahren nicht mehr.

Und so vielschichtig auch nicht. Jerusalem war immer schon ein komplexes Gebilde: Im Westen dominieren Bars und Restaurants, gut gepflasterte Straßen, akkurat gepflegte Häuser. Im Osten, auf der anderen Seite einer vierspurigen Straße, die teilweise genau auf der einstigen Waffenstillstandslinie von 1949 verläuft, sind die Plätze staubig und voller Schlaglöcher, Müllabfuhr und Postzustellung funktionieren nur rudimentär. Und damit Jerusalem nicht nur, aus israelischer Sicht, Hauptstadt, sondern auch größte Stadt des Landes ist, wurde einfach das Stadtgebiet weiter ausgeweitet, bis ins Westjordanland hinein. Doch von den Annehmlichkeiten der israelischen Infrastruktur profitieren die Menschen hier kaum: Die Fürsorge der Stadtverwaltung endet regelrecht an der Grenze zwischen Ost und West.

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Doch Benachteiligung ist bei weitem nicht der einzige Grund für den tiefsitzenden Frust von vor allem jungen Palästinenser*innen. Die Coronakrise hat die Menschen in Ost-Jerusalem und in den palästinensischen Gebieten um ein Vielfaches härter getroffen als jene im israelischen Staatsgebiet und in den israelischen Siedlungen im Westjordanland. Armut und Arbeitslosigkeit sind so hoch, dass die Statistikämter Israels und der Palästinensischen Autonomiebehörde sie jeweils nur noch grob mit »über 40 Prozent« beziffern. Und dabei kocht das Gefühl nach oben, überhaupt keine Kontrolle über das eigene Schicksal zu haben: Wenn Israel die Grenze zumacht, dann ist sie auch in Palästina zu; wenn Israels Regierung die Schließung von Geschäften anordnet, dann sind sie auch in Ost-Jerusalem und im Westjordanland dicht.

Aber Impfstoff gibt man nur dann ab, wenn es nicht anders geht. »Nie zuvor habe ich ein stärkeres Gefühl der Besatzung gehabt«, sagt der Arzt Amin Husseini, der im Hadassah-Hospital in den vergangenen Monaten »unzählbar viele« Corona-Patienten versorgt hat: »Wo sie herkommen, interessiert mich nicht, und meine Patienten interessiert nicht, wer ich bin. Aber ich habe mir auch schon vorgestellt, dass es gut sein könnte, dass einer davon irgendwann in Uniform vor meiner Tür steht und meine Familie und mich aus dem Haus werfen will.«

Denn dies ist der wahrscheinlich schwerwiegendste Punkt, der die Menschen bewegt: Im Stadtteil Scheich Dscharrah sollen vier palästinensische Familien ihre Häuser verlassen, weil die Grundstücke vor der israelischen Staatsgründung jüdischen Familien gehört haben sollen. Auf den ersten Blick ein klarer Fall aus dem Eigentumsrecht: Eigentümer*in ist, wer eine Sache rechtmäßig erworben hat, und bleibt es, auch wenn die Sache verlassen oder weggenommen wurde. Nur ist es hier so, wie auch in den meisten der vorangegangenen Fälle, dass nicht die Nachkommen und Erben direkt Ansprüche anmelden, sondern die Anwält*innen einer rechten Organisation.

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Deren Klagebefugnis steht auf ausgesprochen tönernen Füßen, weil sich nicht nachvollziehen lässt, ob und wie die Personen im Hintergrund tatsächlich mit den ursprünglichen Eigentümer*innen in Verbindung stehen. Noch wird vor Gericht gestritten, doch das Signal ist klar: Mehrere Instanzen haben die Ansprüche durchgewunken – was andersrum so gut wie nie passiert: Nach der israelischen Staatsgründung flüchteten Hunderttausende Palästinenser*innen aus ihren Häusern; offiziell sind sie bis heute die Eigentümer*innen. Doch im Laufe der Jahrzehnte wurden Gesetze eingeführt, die die Anmeldung von Ansprüchen bestenfalls massiv erschweren.

Die UNO hat Israel vor den geplanten Zwangsräumungen gewarnt. Es handele sich dabei möglicherweise um ein »Kriegsverbrechen«, erklärte der Sprecher des UN-Rechtsbüros, Rupert Colville, am Freitag in Genf. »Wir fordern Israel auf, sofort alle Zwangsräumungen abzusagen.«

Lösungen liegen mehr denn je in weiter Ferne: In Israel ist nach der vierten Wahl innerhalb von zwei Jahren keine Regierung in Sicht. In den palästinensischen Autonomiegebieten, wo Präsident Mahmud Abbas seit mehr als zehn Jahren ohne Mandat regiert, wurden zum sechsten Mal die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abgesagt.

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