»Wir tun das, um uns selbst sehen zu können«

Die Wahrnehmung erweitern und irritieren: In Freiburg endete das »Festival of Transcultural Cinema«

  • Angela Frick
  • Lesedauer: 3 Min.

Lange Einstellungen, atmosphärische Töne, bewegende Bilder: Es waren durchaus einzigartige Filme, die es in das Programm des diesjährigen Festivals des Freiburger Filmforums geschafft haben. Es nennt sich »Festival of Transcultural Cinema«, ist wettbewerbsfrei organisiert und findet seit 1985 statt. Die 19. Ausgabe, pandemisch bedingt in digitaler Form, ging am Sonntag zu Ende.

In über dreißig, hauptsächlich dokumentarischen Produktionen aus mehr als 25 Ländern wurden wichtige Fragen gestellt: nach Identität im Spannungsfeld von Religion und Sexualität, nach Aufenthaltsgenehmigungen und prekären Arbeitsverhältnissen, nach der Anerkennung der materiellen Lebensgrundlage von marginalisierten Menschen.

In diesem Jahr fand das Festival in Kooperation mit dem ostafrikanischen Dokumentarfilmfonds (Docubox) und der Dokumentarfilm-Assoziation Pakistan (DAP) statt. Um auch ein kenianisches und pakistanisches Publikum für Dokumentarfilme zu begeistern, hatten Zuschauer*innen aus beiden Ländern kostenfreien Zugang zu den Festivalinhalten. Und das sei auch dringend notwendig, so Judy Kibinge, Filmemacherin und Produzentin aus Nairobi. Denn für sie bringt das dokumentarische Storytelling die Möglichkeit mit sich, zur kollektiven Reflexion von Gesellschaft beizutragen: »Wir tun das, um uns selbst sehen zu können.«

Doch wie gelangen die Geschichten zu den Menschen? Das Freiburger Festival imponierte durch ein ausgeklügeltes Livestream-Konzept aus Filmen, Talkrunden und Videokonferenzen. So wurde das Kommunale Kino Freiburg kurzerhand zu einem Studio umfunktioniert, aus dem heraus Gespräche vor Ort oder mit zugeschalteten Gästen übertragen wurden, während Festivalteilnehmer*innen eingeladen waren, den Diskussionen digital beizuwohnen. Dadurch entstand nicht nur ein diverses Begleitprogramm zu den einzelnen Filmen, sondern auch eine virtuelle Begegnungsstätte.

Das Festival ermöglichte damit ein Zu-Wort-Kommen von unverzichtbaren Stimmen, denen gerade in Ländern des Globalen Nordens zu selten eine Plattform geboten wird. Und ermöglichte kostbare Momente des sozialen Austauschs, beispielsweise nach dem Livestream von Sabah Jallouls sensibler dokumentarischer Momentaufnahme »Shedding Skin in Late June« (Deutschland 2019), als sich in der Diskussion ein trans-männlicher Zuschauer aus Pakistan berührt zu Wort meldete, um sich bei der libanesischen Protagonistin und trans-Frau Alia Reslan für ihre inspirierende Geschichte zu bedanken. Oder auch im Panel des Dokumentarfilms »If Objects Could Speak« (Kenia/Deutschland 2020), als sich europäische und afrikanische Nachwuchsfilmschaffende und Museumskurator*innen gemeinsam mit seiner Majestät Haye Makorani-a-Mungase VII, dem König der kenianischen Pokomo-Gemeinschaft, vor internationalem Publikum über Fragen nach Machtungleichheit und Verantwortung im Kontext kolonialer Raubgüter in europäischen Museen austauschten.

Tatsächlich entfaltete das Festival sein entgrenzendes Potenzial nicht ausschließlich durch seine Kommunikationsstruktur, sondern auch durch die immersive Wirkung einiger Filme: Die studentischen Beiträge der Sektion »Sensory Cinema« ermöglichten das unmittelbare Ein- und Abtauchen in das filmische Geschehen - ganz unabhängig davon, ob dieses in der Peripherie des Regenwalds (»Talamanca«, GB 2020) oder in großstädtischen Metropolen (»Tenace«, Frankreich 2020) zu verorten ist. Immer wieder fiel die außergewöhnliche Nähe der Filmschaffenden zu ihren erzählten Geschichten auf.

Doch es ging nicht nur um das Verschwimmen-Lassen konstruierter Grenzen, sondern auch um die schmerzhaften Konsequenzen, die so manch eine Grenzziehung mit sich bringt. So verlieh die aktuelle Eskalation der Lage in Nahost dem Film »The Viewing Booth« (Israel/USA 2019) von Ra’anan Alexandrowicz eine traurige Relevanz. Am Beispiel des Konflikts zeigt die Dokumentation in eindrücklicher Art und Weise auf, wie schwer es ist, bereits gefestigte Narrative und Metaerklärungen innerhalb der Wahrnehmung von Menschen zu irritieren - unabhängig davon, wie überzeugend die gelieferten Argumente sind.

Gerade um dieser Einseitigkeit vorzubeugen ist es so wichtig, diversen Erzählungen eine Plattform zu geben; Raum für alternative Stimmen zu öffnen, die nicht ausreichend gehört werden; Grenzen zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Das Freiburger Filmforum hat mit seinem diesjährigen Programm dazu beitragen können. Ganz so, wie es Regisseur Alexandrowicz formulierte: »There is something about cinema that allows people to experience things, to under-stand things, to emphasize.«

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