Die Buntheit des Judentums

Jenseits der Shtetl: Sandra Kreislers neues Buch »Jude Sein« ist eine Anklageschrift

  • Thomas Klatt
  • Lesedauer: 5 Min.

Die in München geborene Sandra Kreisler kann sich noch gut an ihren Vater erinnern, den berühmten Wiener Kabarettisten Georg Kreisler (1922 - 2011). Selbst Schauspielerin und Chansonnière ist sie nicht nur in seine künstlerischen Fußstapfen getreten, sondern hat sich allmählich auch seine politische Vorsicht zu eigen gemacht. »Als Kind musste er auswandern und ein komplett neues Leben anfangen. Wir sind aufgewachsen im Bewusstsein von Antisemitismus und ich muss sagen, dass ich es lange Zeit für übertrieben gehalten habe, was er sagte. Ich habe erst mit den Jahren gelernt, dass er durchaus recht hatte«, erinnert sich seine heute 60-jährige Tochter. Ihr Vater war 1938, bei der Annexion Österreichs durch die Nazis, mit seiner jüdischen Familie in die USA emigriert und erst Mitte der 1950er Jahre nach Wien zurückgekehrt.

Heute pendelt Sandra Kreisler zwischen Wien und Berlin, hat in beiden Städten ihre eigenen Tonstudios. Den Hass auf Juden und alles Jüdische erlebt sie in den letzten Jahren immer mehr. Antisemitismus ist auch das Generalthema ihres neuen Buches »Jude sein«. Es sind 31 Essays, bissige »Ansichten über das Leben in der Diaspora«, eine Anklageschrift. So stößt Kreisler etwa die schräge Darstellung des Judentums in deutschen Medien auf. »Wenn sie etwas Positives über Juden schreiben, dann ist das über tote Juden. Und wenn sie irgendetwas über Juden schreiben, wird es bebildert mit Shtetl-Juden aus dem vorigen Jahrhundert, die es so heute praktisch nicht mehr gibt«, sagt sie. Etwa, wenn der »Spiegel« über »jüdisches Leben« berichtet. Auch in Schulbüchern tauchen Juden oftmals nur als Orthodoxe auf. Die Buntheit und Diversität des heutigen Judentums werde nicht gesehen.

Und auch das stört Kreisler auch in ihrem Judesein: Der Nahostkonflikt werde immer wieder verzerrt dargestellt. »Zum Beispiel wenn es Unruhen gibt, wenn geschossen wird, berichten sie nicht von den 25 Raketen, die nach Israel fliegen, sondern sie berichten von der ersten, die von Israel zurückfliegt. Und zwar mit der Unterschrift: Israel greift an.« Manchmal werde auch geschrieben, dass der Dauerraketenbeschuss für Israelis nicht so schlimm sei, da diese ja ein Leben in Schutzbunkern gewöhnt seien. Aber schreiben alle Journalisten schlecht über Israel? Erst auf Nachfrage gibt Kreisler zu, dass es auch in deutschen Medien eine sachgerechte Berichterstattung gibt. Nur eben leider nicht immer. Ob und wie der aktuelle Nahostkonflikt sachgerecht dargestellt wird, werden spätere Studien zeigen.

Kreisler will aber auch nicht nüchtern analysieren. Sie schreibt aus einer persönlichen Betroffenheit heraus. Sie ärgert sich als Jüdin über mancherlei Schräglagen, nämlich über die ihrer Meinung nach allzu einfache Schwarz-Weiß-Malerei. Die Guten seien dann die Palästinenser, die Bösen die Israelis, die Juden. Für Kreisler ist dies Ausdruck eines wachsenden Antizionismus, der für sie eine moderne Form des Antisemitismus darstellt. Ein sogenannter »Confirmation Bias«, dem auch viele Politiker und selbst Kirchenvertreter unterlägen. »Der Confirmation Bias, die Kognitions-Verzerrung. Das ist ein Hauptproblem bei dieser ganzen Antizionismus-Welle, die über uns hereinbricht. Sein Leben lang hört man, die Palästinenser kommen aus Palästina und sind ein altes Volk. Es hat aber nie ein Land gegeben, dass Palästina heißt. Aber dass dieses Land Judäa heißt und seit Tausenden von Jahren das jüdische Kernland ist, das weiß keiner«, klagt Kreisler über Unwissenheit in der deutschen Öffentlichkeit.

Seit den 1960er Jahren werde erfolgreich das Narrativ der PLO verbreitet, dass es seit Jahrtausenden eine palästinensischen Bevölkerung an dem Ort gegeben habe. Kreisler betont hingegen, dass viele der Vorfahren der heutigen Palästinenser erst ab dem 19. Jahrhundert auf der Suche nach Arbeit in das spätere Israel eingewandert waren. Und dass die Nachkommen der im Konflikt von 1948 Geflüchteten in den Exilstaaten bis heute im Elend gehalten werden - das wolle in Deutschland kaum jemand wahrnehmen.

»Ich und die meisten Juden und die meisten Israelis, die ich kenne, wollen doch, dass die Palästinenser, die heute noch in Flüchtlingslagern in arabisch-muslimischen Ländern leben in Jordanien, in Syrien, dass sie endlich die Staatsbürgerschaften von den Ländern bekommen, in denen sie leben, und dort ganz normal ihr Leben führen können«, sagt Kreisler. Die Palästinenser aber seit mehr als 70 Jahren im Dauerflüchtlingsstatus zu halten, diene allein dem Zweck, Israel international an den Pranger stellen zu können. Dass 1948 auch rund eine Million Juden aus arabischen Ländern flüchten mussten, weiß hier kaum jemand. Sie haben auch bis heute keine Entschädigung erhalten, verharren aber nicht im Flüchtlingsstatus.

Sandra Kreisler klagt aber nicht nur an, sondern reißt auch die positiven Seiten des Judeseins an. Sie selbst ist säkular aufgewachsen. Ihr Jüdischsein definiert sie auch weniger über die Religion als über eine Haltung: »Es gibt eine wunderbare Tradition im Judentum und die nennt sich ›Tikkun Olam‹, das heißt ›Heile die Welt!‹ - das ist ein religiöses Gebot, und es ist auch bei Nicht-Religiösen tief eingeschrieben schon in die jüdische DNA kann man fast sagen. Weil alle Juden immer sich damit befassen, was könnte ich noch wenigstens nebenbei tun, um die Welt zu verbessern.«

Das hört sich in der momentanen Situation vielleicht zynisch an. Die Welt verbessern, indem man mit Raketen und Bomben schießt? Aber wenn Israel angegriffen wird, hat es wie jeder Staat das Recht auf Selbstverteidigung. Es sei denn, man will dem Staat Israel seine Existenzberechtigung absprechen. Dagegen aber will Sandra Kreisler mit ihrem sehr persönlichen Buch anschreiben.

Sandra Kreisler: Jude Sein. Hentrich & Hentrich 248 S., br., 18 €.

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