Luxus der Liebe

Zum Weltkindertag: Mütter im Dauerkonflikt. Wie sollen sie ihren kleinen Kindern begegnen?

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Arm! Arm!», schreit das Kind und umklammert die Beine der Mutter, die sich gerade in einer Videokonferenz befindet. Lange hat sie die Kleine herumgetragen. Kaum setzte sie sich vor den Rechner, fing das Jammern wieder an. Und ich kann ihr nicht mal helfen. Die Enkelin will nicht wie sonst zu mir, sondern nur zu meiner Tochter, die mir so leid tut in ihrer Überforderung. «Nun ist aber Schluss!», sage ich streng. Die Zweijährige dreht beleidigt den Kopf von mir weg.

Was spürst du, wenn ein Kind nicht aufhört zu schreien? Dass es unerträglich ist. Dass man es sich nicht bieten lassen darf. Ist da die Abwehr womöglich größer als das Mitgefühl? Ein Ohnmachtsempfinden ruft nach Ermächtigung. Sollte ein Kind nicht besser erzogen sein?

Großeltern lassen auf ihre Erfahrungen nicht gern etwas kommen: Euch fehlt ein regelmäßiger Tagesablauf, rügen sie die jungen Eltern. Ein Kind braucht eine zeitliche Struktur. Ihr dürft euch jetzt nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Das werdet ihr später bereuen. Klare Grundsätze und Normen. Ihr müsst Grenzen setzen. - Ich habe die Worte in mir und spreche sie nicht aus, weil ich meine Tochter nicht verärgern will, vor allem aber zweifle ich inzwischen selbst daran. Der Umgang mit Kindern ist abhängig von gesellschaftlichen Gegebenheiten. Wäre ich zehn Jahre früher geboren, hätte meine Mutter vielleicht den wirkmächtigen Erziehungsratgeber aus NS-Zeiten gelesen: «Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind» von Dr. Johanna Haarer. Und selbst sie wenn das Buch nicht zu Gesicht bekommen hätte, die Maßgaben darin wären ihr auf Schritt und Tritt begegnet.

Die Autorin (1900-1988) war unter den ersten Frauen gewesen, die in Deutschland Medizin studierten. Im männlich dominierten akademischen Umfeld hat sie sich durchgekämpft. Ihre erste Ehe mit dem Arzt Hellmut Weese, der später für die Pharmaforschung der IG Farben tätig war, ging auseinander. 1932 heiratete sie einen Kollegen, den Oberarzt Dr. Otto Haarer. Als sie im folgenden Jahr Zwillinge bekamen, blieb er in Stellung, sie aber gab wohl oder übel ihre ärztliche Tätigkeit auf und begann zu schreiben. Wie oft sie dabei das Schreien ihrer Kinder im Ohr hatte - es lässt sich denken. Wahrscheinlich sind ihre Texte über Säuglingspflege, die sie für den «Völkischen Beobachter», das Parteiorgan der NSDAP, verfasste, auch aufgrund ihrer eigenen Befindlichkeit zustande gekommen.

Haarer erlebte ihre Kinder - nach Zwillingen bekam sie drei weitere - als «Haustyrannen» und kämpfte gegen sie. Mit ihrem Rat an junge Mütter, «die Bedürfnisse ihrer Babys gezielt zu ignorieren», hat sie aus ihrer Lage eine allgemeine Schlussfolgerung gezogen - und entsprach dabei dem Menschenbild der NS-Zeit, der «Soldatenerziehung»: es ging um Gehorsam, Härte und Disziplin. Laut Wikipedia war Haarer seit 1937 Mitglied der NSDAP und zeitweise «Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen» der NS-Frauenschaft in München. Ihre Bücher waren im Faschismus Bestseller und blieben es auch in Westdeutschland, wo sie, von der NS-Terminologie bereinigt, weiterhin erschienen und die Mütter der Kriegs- und der Nachkriegsgenerationen beeinflussten. Zwar verlor sie ihre Approbation als Ärztin, arbeitete aber bis zu ihrer Pensionierung 1965 in Gesundheitsämtern. Von Alkohol und Tabletten abhängig, soll sie bis zu ihrem Tode überzeugte Nationalsozialistin gewesen sein.

In der Sowjetischen Besatzungszone und dann in DDR wurden ihre Schriften auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt. Mein älterer Journalistenkollege Hans Uslar, Mitautor des Buches «Kleine Kinder - keine Sorgen» (1977), musste von Johanna Haarer nicht einmal gewusst haben, doch auch er riet, Neugeborene notfalls nachts schreien zu lassen. Ich habe mich daran gehalten und das liegt mir bis heute auf der Seele, als eine Schuld gegenüber meinem ersten Kind, die ich nie mehr gutmachen kann. «Gib ihm doch was», sagte mir meine Mutter, «dann kommst auch du zur Ruhe». «Aber dann wird er nie durchschlafen lernen», entgegnete ich. Bei meiner jüngeren Tochter habe ich es dann anders gemacht. Und doch war es in Entbindungsstationen bis in die 1980er Jahre üblich, Säuglinge gleich nach der Geburt von den Müttern zu trennen, weil diese sich erst einmal erholen sollten. Nur zum Stillen wurden ihnen die Babys gebracht, zu festen Zeiten. Und zwischendurch und nachts? Weinten sie? Sagte dann eine Säuglingsschwester zur anderen, dass Schreien die Lunge kräftigt?

Auch später sollten sich Kinder möglichst einpassen und pflegeleicht sein. Wie auch anders, wenn ihre Mütter in Vollzeit arbeiteten? Als Arbeitskräfte wurden sie dringend gebraucht, konnten sich dadurch aber auch emanzipieren. Gegen diese selbstbewussten Mütter hatten es despotische Väter schwer. Das Frauenbild veränderte sich radikal und damit auch das Männerbild. Ich hätte nie jemanden geheiratet, der mir Grenzen setzt. Und ich wurde von meinen Eltern nie geschlagen, dazu hatte niemand das Recht. Das Verbot von Körperstrafen in Schulen in der Sowjetischen Besatzungszone ab August 1945 wurde von der DDR übernommen. In der BRD aber galt bis Anfang der 70er Jahre ein «Züchtigungsrecht» für Lehrkräfte, in Bayern sogar bis 1983.Und erst im Jahr 2000 wurde das Bürgerliche Gesetzbuch dahingehend verändert, dass «körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen» nunmehr «unzulässig» sind.

Ich möchte auf die Kindergärten und Schulen in der DDR nichts kommen lassen. Doch was meine Enkelin auch der 68er-Bewegung in der BRD zu verdanken hat, das wird mir erst jetzt allmählich klar. Früher wurde vor «antiautoritärer Erziehung» gewarnt. Vor Kindern, die «über Tisch und Bänke» gehen würden. Werden die nicht zu Egoisten, wenn man ihnen keine Grenzen setzt? Lange habe ich «antiautoritär» tatsächlich mit «permissiv» verwechselt und nicht begriffen, was für ein fortschrittliches Konzept damit verbunden war.

Je verknöcherter die gesellschaftlichen Strukturen sind, umso radikaler, umso lauter auch muss doch der Aufbruch sein. Im Kampf gegen die immer noch nicht überwundene Nazi-Ideologie wehrten sich die 68er auch gegen die seit Jahrhunderten übliche autoritäre Erziehung, die sie selbst von ihren Eltern erlebt hatten. Keine Gewalt, Freiheit statt Gehorsam - das waren ihre eigenen Wünsche. Vielleicht ist es eine idealistische Hoffnung, die Gesellschaft humaner zu machen, indem man Kinder in Eigenständigkeit, Selbstverantwortung und Kreativität aufwachsen lässt. Ja, da lassen sich teilweise Bezüge zum neoliberalistischen Weltbild herstellen, als eine Instrumentalisierung des Bemühens um Fantasie und Subjektsein. Aber trotzdem haben die emanzipatorischen Forderungen der 68er tatsächlich dem in der DDR Erreichten Wesentliches hinzugefügt.

Gewiss, es ist bis heute ein widerspruchsvoller Prozess, Kinder nicht als asoziale Wesen zu betrachten, deren anarchischer Wille gebrochen werden muss, oder als «Tabula rasa», die es mit gewünschtem Verhalten zu konditionieren gilt. Auch in der heute proklamierten bedürfnisorientierten Erziehung geben Eltern ihren Kindern mit, was sie für die Gegenwart als relevant betrachten oder was sie sich früher gewünscht hätten. Sollen sie sich gegeneinander durchsetzen oder sollen sie solidarisch sein? Ein Problem der akademischen Mittelklasse?

Und wenn es so ist: Emanzipatorische Prozesse verlaufen ungleichmäßig entsprechend sozialer Gegebenheiten, lassen aber Forderungen mit Breitenwirkung entstehen. Die Kitas sind heute schon andere als die vor Jahrzehnten. Für Frauenrechte und Kinderrechte gibt es eine stärkere Sensibilität. Dass Defizite umso sichtbarer werden - gut so. Und irgendwann werden auch die Kinderrechte explizit ins Grundgesetz aufgenommen werden. Dass Kinder in anderen Teilen der Welt in Kriegen und an Hunger sterben und weit entfernt sind von dem, was wir uns für die unsrigen wünschen, ist kein Argument gegen den Fortschritt vor der eigenen Haustür.

«Ich muss mich doch fragen: Was will dieses kleine Wesen?», sagt meine Tochter. «Auf den Arm will sie, du hörst es doch», entgegne ich. «Aber wie lange soll dieses Geschrei denn noch gehen?» - «Tust du dir selber jetzt mehr leid als die Kleine? Ich denke, ihr Weinen ist nicht grundlos, sie wird wahrscheinlich krank.» - «Du bist es, die mir leid tut. Und wenn ich dann noch den stummen Vorwurf spüre, ich sei daran schuld, weil ich ihr gegenüber alles falsch mache, wird es erst richtig schlimm. Immer sind die Frauen schuld, und die Männer werden gelobt, wie sie sich um ihre Kinder kümmern.» - «Weil das lange nicht selbstverständlich war, überleg mal, was das für ein Fortschritt ist.» - «Aber fifty- fifty ist es noch lange nicht. Es sind die Frauen, die halbtags arbeiten.» - «Wenn sie es sich leisten können. Insofern ist deine hingebungsvolle Liebe für die Kleine doch ein Luxus. Oder?» - «Ohne Not, mir selbst und dem Kind vertrauend - ja, im Vergleich mit anderen Kindern ist es wohl ein Luxus.»

Am Abend bekam die Kleine tatsächlich Fieber. Meine Tochter hat sich angesteckt.

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