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Ekstatiker mit Botschaft

Berlinale Special: »Per Lucio« - eine Spurensuche im Leben des italienischen Sängers Lucio Dalla

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.

Erzähltes Leben, ein erzähltes Jahrhundert. Gut, dass die Berlinale den Dokumentarfilm »Per Lucio« über den Sänger Lucio Dalla zeigt. Denn in dessen Liedern spiegelt sich der Wandel vom ländlichen zum industrialisierten Italien der 60er und 70er Jahre. Geboren wurde er 1943 in Bologna, der Vater stirbt, als er sechs Jahre alt ist. Lucio: das Mutterkind bis zu ihrem Tod. Ansonsten spielen Frauen keine Rolle in seinem Leben.

Er ist links, katholisch und liebt Männer - aber öffentlich sprechen kann er darüber nicht. »Per Lucio« von Pietro Marcello wird zur Spurensuche im Leben des Sängers in einem Italien, das sich in diesen Jahren rapide wandelt. Was macht eine Kunst aus, die sich an viele Menschen wendet - ohne Teil der Massenkultur werden zu wollen?

Dallas Gesang hatte etwas Ekstatisches: den plötzlichen schier unbremsbaren Aufschwung in der Stimme, ein Ausbrechen aus jeder Norm und Konvention. In seinen letzten Jahren kopierte er diesen Gestus dann oft nur noch: die Zeit der Aufbrüche für ihn und für Italien schien vorbei. Immerhin, er blieb der Kunst treu, inszenierte nun »Tosca« in einer eigenen Bühnenfassung, arbeitete fürs Theater, führte Prokofjews »Peter und der Wolf« auf.

Sein früherer Manager Tobia Righi spricht darüber, wie sie einander kennenlernten. 1966 traf er sich mit Dalla, der als Jazz-Musiker begonnen hatte und nun (weil es für Jazz zu der Zeit in Italien kein Publikum gab) eine Sololaufbahn begonnen hatte. Anfangs zu Pfiffen und Tomatenwürfen. Den Zuschauern war nicht gefällig genug, was er sang, auch war er nicht schön, kein »Latin Lover«. Man nannte ihn abfällig die »Spinne«: klein, haarig und intellektuell.

Für seinen künftigen Manager hat er zwei Nachrichten. Die erste: »Ich bin pleite.« Die zweite: »Ich vertraue dir.« Das waren die Startvoraussetzungen, die sich im Nachhinein als künstlerisch und finanziell ergiebig erwiesen. Manager Righi ist freundlich, aber er kann auch anders. Den üblichen Betrug eines Veranstalters, der nach einem ausverkauften Konzert Dallas, statt die Gage auszuzahlen, bloß mit den Schultern zuckt, begegnet er damit, dessen Rolex in »Verwahrung« zu nehmen, so lange, bis die Schuld bezahlt ist. Das spricht sich rum - und die Zahlungsmoral der Konzertveranstalter verbessert sich schlagartig.

2012 starb Dalla plötzlich in Montreux an einem Herzinfarkt. Dort hatte er gerade eine Europatournee begonnen. Sein nachgelassenes Vermögen wird auf 100 Millionen Euro geschätzt. Klingt ungesund, war ungesund. Denn wie sollte jemand, mit so viel Geld beladen, noch die täglichen Mühen auf sich nehmen, die es erfordert, ein neues Lied zu schreiben - von der Inspiration ganz zu schweigen?

Regisseur Pietro Marcello wendet sich vor allem den frühen Jahren von Lucio Dalla zu, als er zu den Arbeitern von Fiat ging und für sie sang. So wurde er zur Symbolfigur einer Kultur Italiens von unten. Lieder für nicht privilegierte Menschen, die er gerade darum ins Zentrum seiner Lieder rückte! Keine Kampflieder, sondern solidarische Poesie. So wie jene in Westdeutschland zu dieser Zeit von Hannes Wader oder Konstantin Wecker.

Seine Mutter nimmt er immer mit zu den Konzerten, aber sie ist auch seine strengste Kritikerin. Er solle aufhören, sich wie ein Clown aufzuführen. Besser wäre es ohnehin gewesen, wenn er etwas »Solides« geworden wäre oder wenigstens studiert hätte. Bis zu ihrem Tod 1976 war so die Bodenhaftung des schlagartig berühmt gewordenen Sängers garantiert.

Dalla begann in einer Zeit zu singen, als Texte wichtig waren. »Itaca« etwa erzählt die »Odyssee« auf eine etwas andere Art: als Dialog zwischen einem Matrosen und seinem Kapitän. Dalla singt auch über Jesus, für ihn der unterprivilegierte, einfache Mensch seiner Zeit schlechthin. 1972 entsteht »Piazza Grande«, ein Lied über einen Obdachlosen, das geblieben ist. Kein Sozialkitsch, sondern aus einem selbstverständlichen Zugehörigkeitsgefühl entstanden, das ihm auch die Arbeiter abnahmen. Aber dann folgten die spektakulären Autorennen, bei denen Dalla mit Songs zur Stelle war. Nach den Arbeitern kamen die Bosse. Auch das gehört zum sozialen Wandel Italiens, den Dalla repräsentiert. Plötzlich wollten alle nur noch sehr schnell sehr reich werden.

Dalla spürte, was hier auf der Strecke blieb: das gelebte Miteinander jenseits von Kaufen und Verkaufen. Er schreibt »Balla balla Ballerino« über einen pazifistischen Tänzer. Der Tanz wird für ihn zum Symbol eines gelingenden Lebens. Von Musik getragen finde jeder seine ganz eigene Lebensform!

Aber wie sucht man nach etwas, wenn alles, was man finden konnte, bereits hinter einem liegt? Das wehmütig stimmende Porträt eines großen Sängers, der die einfachen Menschen auch dann noch liebte (und sie ernst nahm), als er längst nicht mehr zu ihnen gehörte.

»Per Lucio«: Italien 2021. Regie: Pietro Marcello. Termine: 18.6., 22.15 Uhr, Arte-Sommerkino Schloss Charlottenburg. 19.6.,19.15 Uhr, Freiluftkino Museumsinsel.

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