Warten auf den Neustart

Kriegsmüde sind viele Menschen in Libyen. Die Erwartungen an die Berlin-Konferenz sind nicht groß

  • Mirco Keilberth, Bengasi
  • Lesedauer: 8 Min.

Am Mittwoch lädt Außenminister Heiko Maas zusammen mit Jan Kubis, dem Chef der Libyen-Mission der Vereinten Nationen, zur zweiten Libyen-Konferenz nach Berlin ein. Neben Diplomaten aus zwölf Ländern reisen auch der libysche Regierungschef Abdul Hamid Dbaiba und Außenministerin Nahla Mangoush an. Die Neuauflage der Konferenz vom Januar letzten Jahres will erreichen, dass aus dem Waffenstillstand ein langfristiger Frieden entsteht. Für Dezember sind Neuwahlen geplant, davor müssten allerdings die zahlreichen ausländischen Söldner abziehen, die mithilfe von Moskau und Ankara ins Land kamen. Gibt es darüber keine Verständigung, droht eine Wiederauflage des Krieges oder eine Spaltung des Landes, wie eine Reise nach Bengasi zeigt.

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Die Fahrt entlang der zehn Kilometer langen ehemaligen Frontlinie in der Innenstadt Bengasi lässt Mohamed Kaplan verstummen. In den Trümmern des während des dreijährigen Häuserkampfes abgesperrten Gebietes sind zu viele Erinnerungen an sein früheres Leben begraben. Die Großeltern des 43-Jährigen wohnten in einer der mondänen Straßen, in denen osmanische, griechische, arabische und italienische Kultur über Jahrhunderte das Zusammenleben prägte.

Kaplan hält vor dem Platz der Armee und steigt aus. Hier, einen Steinwurf vom Hafen entfernt, verbrachte er als Kind die Sommerferien. Auf dem Bürgersteig liegen Teile der von Einschusslöchern zersiebten Fassade der aus der Gründerzeit stammenden Häuser. Wir gehen vorsichtig zu den Trümmern der Marineakademie; immer wieder finden hier die zurückkehrenden Bewohner Munitionsreste und Minen. Auf dem Balkon vor uns hatte der libysche König Mohamed Idriss 1947 die Unabhängigkeit ausgerufen. Bis zu Muammar al-Gaddafis Putsch 21 Jahre später sei der von den italienischen Kolonialherren erfundene Staat für damalige Verhältnisse eine Modelldemokratie gewesen, sagt Kaplan. »Hier schlägt das Herz von Bengasi und ganz Libyens«, sagt er und holt tief Luft.

Wie viele in der Cyreneika-Provinz betont der Familienvater immer wieder, dass Bengasi der Ort sei, an dem immer schon über das Schicksal des Landes entschieden wurde. Doch bei dem Anblick der Trümmer merkt Kaplan plötzlich, dass er in der Vergangenheitsform spricht. Das neue Libyen - bis zur Entdeckung der größten Ölvorkommen Afrikas Mitte der 60er Jahre war es nur ein staatenloses Gebiet zwischen Tunesien und Ägypten - wird nun aus dem dreimal so großen Tripolis regiert.

Die Zerstörung der Altstadt ist das Resultat des Krieges zwischen der libysch-arabischen Armee von Khalifa Haftar und islamistischen Gruppen verschiedener Couleur, die 2014 fast die gesamte Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten. »Nur noch ein kleiner Stadtteil unmittelbar in der Nähe des Flughafens wurde von den verbliebenen Soldaten und Offizieren der kleinen libyschen Armee gehalten, die Langzeitherrscher al-Gaddafi immer genau im Blick hatte. Vielleicht war es seine ständige Angst vor den vielen Putschversuchen, die ihn 42 Jahre an der Macht hielt«, meint Kaplan.

Für die ehemaligen Revolutionäre von 2011, denen sich viele aus dem Ausland zurückgekehrte Islamisten angeschlossen hatten, waren die Offiziere ein leichter Gegner. Nach dem Sturm auf das amerikanische Konsulat und dem Tod des Botschafters Chris Stevens waren die internationalen Diplomaten in die 1000 Kilometer weiter westlich gelegene Hauptstadt geflohen. »Wir Bengasinos waren nur wenige Jahre nach dem erfolgreichen Aufstand gegen Gaddafi plötzlich alleine mit den Islamisten. Ich musste mein Haus verlassen und mit meiner Frau und unserem vierjährigen Sohn zu meinem Onkel ziehen. Denn als moderne Familie fühlten wir uns nicht mehr sicher«, sagt der ausgebildete Zahnarzt, der seit zwei Jahren eine eigene Praxis betreibt.

Während der Demonstrationen für die Freilassung des Menschenrechtsanwalts Fathi Terbil vor zehn Jahren begann Kaplan, mit der Kamera zu drehen. Es waren die ersten Tage der Revolution, kurz nachdem die Menschen in Kairo und Tunis auf die Straße gegangen waren. Gaddafis Sicherheitskräfte beantworteten die friedlichen Bürgerproteste mit brutaler Gewalt. Nach wenigen Tagen und Dutzenden Toten und Verletzten trieb sie der Volkszorn aus der Stadt, weit weg nach Tripolis. Kaplan übernahm zusammen mit anderen Aktivisten das ausgebrannte Hauptquartier des Geheimdienstes und betrieb ein Medienzentrum, das Journalisten aus der ganzen Welt anzog. »Wir dachten damals, dass Libyen in wenigen Jahren eine stabile Demokratie werden kann. Das war nach vier Jahrzehnten Willkürherrschaft eines Mannes natürlich ein naiver Gedanke.«

Die Menschen waren im Februar 2011 mit unterschiedlichsten Vorstellungen von einem neuen Libyen auf die Straße gegangen. Die nichtarabischen Minderheiten der Tobu, Tuareg und Berber wollten ihre verbotene Sprache wieder sprechen, die Jugend wandte sich westlichen Wertvorstellungen zu, die Stämme hatten die offenen Rechnungen aus der Kolonialzeit und Gaddafi-Herrschaft zu begleichen. »Und dann ist da noch der uralte Ost-West-Konflikt«, sagt Kaplan, zwischen der kulturell von Ägypten geprägten Provinz Cyreneika und dem maghrebinischen Tripolitanien. »Nur in einem waren wir uns einig: Die Rückkehr einer Diktatur, nun in Form einer von den Islamisten befohlenen Scharia-Gesetzgebung, wollte niemand«, ist sich Kaplan sicher.

Der in Tripolis 2014 mit einem Putschversuch gescheiterte Khalifa Haftar nutzte das Machtvakuum, das der revolutionäre Übergansgrat in Bengasi hinterlassen hatte. Mit tagelangen Gesprächen überredete der aus Westlibyen stammende selbst ernannte Feldmarschall die Stämme der Cyreneika, den Kampf gegen die Milizen der Ansar-Sharia und den Islamischen Staat aufzunehmen.

Damals lebten in der Altstadt von Bengasi noch Familien aus dem ganzen Land, ein Libyen in Miniaturformat. Die radikalen Gruppen nutzten die engen Gassen und bauten Tunnel und Bunker zur Verteidigung. Von der Seeseite kamen regelmäßig Boote aus der 800 Kilometer westlich gelegenen Stadt Misrata und der Türkei mit Nachschub. Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate lieferten Waffen an Haftars aus Stadteilmilizen und Salafisten zusammengewürfelte Armee.

Das Land ist wie gelähmt

Nach Haftars Sieg mussten auch viele unbeteiligte Familien aus Westlibyen Bengasi verlassen, man warf ihnen Kollaboration mit der Regierung in Tripolis vor. Der Krieg um die Hauptstadt war für Haftar die logische Fortsetzung des Krieges in Bengasi. Doch Kaplan weigerte sich wie viele andere ehemalige Revolutionäre in Bengasi und Tripolis, der Logik des Krieges zu folgen. Haftars Armee musste ebenso wie die Regierung von Fajis Al-Sarradsch auf Söldner zurückgreifen.

Mohamed Kaplan produzierte nach der Revolution Comic-Magazine für Kinder. »Kinder wollen lesen. Es gibt jedoch keine libyschen Comic-Helden.« Zusammen mit seiner Frau will er einer von Krieg und Gewalt traumatisierten Generation neue Ideale näherbringen. »Comics sind der beste Weg, um die Kinder zum Lesen zu motivieren. In ihren Familien und den Medien hören sie nur von Hass und Gewalt.«

Über dem gesamten Land liegt derzeit eine Art Depression. Neben dem alten Mediencenter trifft Kaplan auf Mohamed Jaouda, der mit seiner Bürgerinitiative die Räumung der Trümmer und den Wiederaufbau organisiert. Jugendliche schaufeln in ihrer Freizeit die Steine in Schubkarren.

Der Familienvater lässt sich ungerne fotografieren; auch die jungen Leute, die heute an der Corniche vorsichtig den Schutt wegräumen, haben ihre Handys weggelegt. »Wir haben keine Zeit für Selbstdarstellung in sozialen Medien, dort findet sowieso nur noch Hass statt. Wir wollen unsere Stadt aufbauen und unsere Leben wieder selbst in die Hand nehmen«, ergänzt Maher Gahriani, der mit einem Bagger die großen Trümmer wegfährt. »Den hat der Islamische Staat vor der Flucht hier stehen lassen«, lacht er.

Die Szene in den Trümmern in der Medina zeigt, wie weit sich die Libyer nach den Enttäuschungen, Kriegen und dem wirtschaftlichen Absturz der letzten Jahre in ihre Nachbarschaften und Familien zurückgezogen haben. Jaouda ist wie viele andere auch nicht dem Ruf der libysch-arabischen Armee zu einem Feldzug gegen Tripolis gefolgt. Die fehlende Motivation, noch einmal in den Krieg zu ziehen, ist auch eine Chance für das Land. Mohamed Jaouda will auch von der Konferenz in Berlin nichts wissen. Er hat nur eine Forderung: »Lasst uns in Ruhe arbeiten, dann bauen wir dieses Land wieder auf, egal wie lange es dauert.«

Am Mittwoch treffen sich in Berlin Delegationsmitglieder aus zwölf Ländern, um den Waffenstillstand in dem ehemaligen Bürgerkriegsland zu stabilisieren und die Konfliktparteien auf Neuwahlen im Dezember einzuschwören. Die Konferenzteilnehmer werden die »nächsten Schritte eines nachhaltigen Friedensprozesses« diskutieren, heißt es in einer Ankündigung des Auswärtigen Amtes der Bundesregierung, das zusammen mit der UN-Mission für Libyen nach Berlin geladen hat. Doch im Vergleich zur ersten Libyen-Konferenz sind die Erwartungen dieses Mal nicht besonders hoch.

Von den damals im Kanzleramt in Anwesenheit des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan beschlossenen 55 Punkten zur Beilegung des Krieges um die libysche Hauptstadt wurde so gut wie keiner erfüllt. Dass sich die ostlibysche Armee dennoch zurückzog und Khalifa Haftar einer Teilung der Macht zustimmte, lag eher am Gegenteil: Direkt nach dem Heimflug der Staatsgäste kamen mehr Waffen und Söldner ins Land als je zuvor. Für den Bruch des Waffenembargos wurden bis heute weder die Vereinigten Arabischen Emirate noch Ägypten oder die Türkei zur Rechenschaft gezogen. Die Luftüberlegenheit der türkischen Bayraktar-Drohnen verhalf den mit Premierminister Fajis Al-Sarradsch verbündeten Milizen zum Sieg.

Zwar hatten Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas im Januar vor einem Jahr alle Akteure des Stellvertreterkrieges an den Tisch gebracht, aber dann waren es doch die russischen und türkischen Emissäre, die ein Ende des Krieges beschlossen und bei Muammar al-Gaddafis ehemaliger Heimatstadt Sirte eine Waffenstillstandslinie in den Wüstensand zogen.

Seit Oktober ist dort kaum mehr ein Schuss gefallen. Bis zu 15 000 von türkischen Experten aus Syrien eingeflogene syrische Rebellen und über ein Dutzend in Zentrallibyen stationierte russische Mig-29-Kampfjets sind die Hauptgründe für diesen Kalten Krieg. In Berlin und Brüssel unterstützt man derweil die Einheitsregierung des Geschäftsmannes Dbaiba, der es mit vielen seiner auf 33 Minister aufgeblähten Regierung allen recht machen muss. Denn über ihm ergebene Sicherheitskräfte verfügt Dbaiba ebenso wenig wie sein Vorgänger.

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