Deutsches Raunen

Früher wollte man nicht so viel wissen und zeigen: In Berlin betrachtet die Ausstellung »Politik und Kunst« den Wandel der Documenta in Kassel

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 5 Min.

»Mit der Geschichte der Documenta lässt sich eine ästhetische Geschichte der Bundesrepublik schreiben«, erklärte Raphael Groß, Präsident des Deutschen Historischen Museums, in dem aktuell eine große Ausstellung zur Geschichte dieses alle vier, später alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden Kunst- und Kulturevents läuft: »Politik und Kunst«. Betrachtet werden die ersten zehn Ausgaben der Documenta von 1955 bis 1997 im Kontext der politischen Geschichte der BRD.

Als diese Weltausstellung zeitgenössischer Kunst 1955 im Kasseler Fridericianum zum ersten Mal eröffnet wurde, war der Nationalsozialismus zehn Jahre vorbei - und er war es eben noch nicht. Auf den ersten Blick sah alles gut aus: So wurde die Bronzeplastik »Die Kniende« von Wilhelm Lehmbruck, die 1937 Bestandteil der Münchner Propagandaschau »Entartete Kunst« war, 1955 stolz gezeigt. Allerdings von wem? Die führenden Köpfe dieser ersten Ausstellung waren der sozialdemokratische Museumsmanager Arnold Bode und der Kurator Werner Haftmann, ehemaliges SA-Mitglied und im Krieg in Italien als Leutnant für »Bandenbekämpfung« zuständig, er hatte Jagd auf Partisanen gemacht. Mit einer solchen verdrängten Vergangenheit war er nicht allein: von den 21 Gründern der ersten Documenta waren 10 Mitglieder der NSDAP, der SA oder SS gewesen.

Noch Mitte der 50er Jahre war Haftmann von einem Kunstverständnis verpflichtet, das man ein deutsches Raunen nennen könnte, wie kurze Interviewsequenzen in der Berliner Ausstellung nun dokumentieren. Ein Jahr vor der ersten Documenta hatte er in seiner Veröffentlichung zur »Malerei im 20. Jahrhundert« im Hinblick auf die Kunstpolitik der Nazis den irritierenden und schlicht falschen Satz geschrieben: »Die moderne Kunst wurde als jüdische Erfindung zur Zersetzung des ›nordischen Geistes‹ erklärt, obwohl nicht ein einziger der deutschen modernen Maler Jude war.« Der Satz ist nicht nur falsch, sondern antisemitisch, suggeriert er doch, Juden hätten keinen Anteil an moderner Kunst, die Haftmann nun auf einmal zu schätzen vorgab.

Er bewegte sich dabei im Rahmen der damals gängigen Totalitarismustheorie. Bei den deutschen Faschisten, deren Teil er gewesen war, sah er im Nachhinein eine Art asiatischen »Bildersturm« wirken. Von diesem »Bildersturm« waren die Kuratoren allerdings selbst noch so stark geprägt, dass jüdische Künstler*innen - mit Ausnahme von Marc Chagall - auf der ersten Documenta nicht zugegen waren; ihre Vertreibungs- und Vernichtungsschicksale wurden schlicht ausgeblendet.

Des weiteren war Kunst aus der DDR komplett unerwünscht. Die Documenta sollte für viele Jahre ein kulturelles Schaufenster des Westens sein, darunter verstand man Abstraktion und Freiheit gegen sozialistischen Realismus und Gängelung. Mit Kultur könne man Politik machen, hatte Bundespräsident Theodor Heuss selbstbewusst festgehalten. Als die DDR dann 1977 auf Initiative des Documenta-Kurators Manfred Schneckenburger mit wichtigen und renommierten Künstlern vertreten sein durfte, waren auch der Faschismus und die Vernichtungspolitik Thema auf der Documenta, mit beeindruckenden Bildern wie beispielsweise »Festung Breslau - Die Stadt und ihre Mörder« von Berhard Heisig. Auch die Bilder von Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke und Willi Sitte zeigen die große Ausdrucksspanne des Sozialistischen Realismus. Das kulturelle Schaufenster des Westens sollte so auch ein wenig das kulturelle Schaufenster des Humanismus und Antifaschismus propagierenden Ostens werden - im Zuge der deutsch-deutschen Entspannungspolitik der 70er Jahre.

Dagegen gab es auch ein wenig Protest von rechtsradikaler Seite. 1972 kippte der Landwirt und Auschwitzleugner Thies Christophersen zur Documenta 5 zwei Fuhren Mist vor das Fridericianum. Dazu reimte er: »Wie man die edle Kunst verhöhnt/ indem die Schönheit man verpönt./Den Ekel selbst zur Kunst erklärt,/die Documenta hats gelehrt/ Den, der darum sich empört,/daß hier Mist nicht hergehört/ sagen wir, daß noch mehr Mist/ in der Documenta ist. - Die Bauernschaft«.

Ganz anders lautete die Kritik von links, die breiter getragen war. 1968 tauchten bei der vierten Documenta Situationisten auf und zeigten, dass sie als libertäre Rätekommunisten zu genau jenem impulsiven Individualismus fähig waren, den die Documenta bislang dem Kommunismus insgesamt abgesprochen hatte, um ihn exklusiv für »den Westen« zu reklamieren. Ihr Paradebeispiel hierfür war Jackson Pollock.

Die Gruppe »Bauhaus Situationist« sah das anders, protestierte gegen den westlichen Kunstmarkt, und forderte die »Künstlerproletarier aller Länder« dazu auf, sich zu vereinen. Beispielhaft riefen sie eine alternative Documenta aus, die allerdings von dem geschickt operierenden Künstlerischen Leiter Harald Szeemann einfach eingemeindet wurde.

Der kürzlich verstorbene Marxist Werner Seppmann sprach von einem »Eventkarussel« und warf der Documenta eine penetrante Selbstbezüglichkeit vor, ja einen »Verfall der künstlerischen Form«. Seiner Ansicht nach war dies die Konsequenz aus der »Weigerung, sich überhaupt noch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und den von ihnen produzierten Entfremdungsformen jenseits symbolischer Beschwörungsrituale auseinanderzusetzen«. Das schrieb er 2012 über die 13. Documenta in der »jungen Welt« und man hatte fast den Eindruck, als schwebe über der Veranstaltung immer noch der Geist des 1999 verstorbenen Haftmann, der ja keinen Hehl daraus gemacht hatte, wie wenig er von engagierten Künstlern oder von einem politischen Auftrag der Kunst hielt.

Doch das Urteil des marxistischen Kulturkritikers war zu hart. Engagierte Kunst und kritische Stimmen gegen westliche Selbstüberhöhung, Imperialismus und Konsumgesellschaft fanden sich immer wieder auf der Documenta, wie die Auftritte von Edward Said, Raoul Peck oder Jean-Luc Godard beweisen. Die letzte, 2017 sowohl in Athen wie in Kassel 2017 ausgerichtete Documenta stand ganz im Zeichen der Anklage europäischer Migrationsabwehr.

Aber sicher: Die Documenta ist ein hoch versponsertes Kulturevent, es geht in erster Linie ums Geld - sie ist Ausdruck und nicht Antipode des Kapitalismus. Mittlerweile ist sie hierbei so flexibel und formbar geworden, dass sie als der adäquateste Ausdruck einer »Gesellschaft des Spektakels« erscheint, die der Situationist Guy Debord schon 1967 analysiert hatte. Den Kirchen mögen die Anhänger davonlaufen, in der Documenta ist Kunstgenuss und Ausstellungsbesuch zu einem erfolgreichen neuen massentauglichen Gottesdienst geworden. Man geht hinaus, fühlt sich erbaut und ist bereit für die Anpassung an die Realität. Die Aufregung über die Nazi-Verstrickungen des frühen Kurators Haftmann sollte eine solche Kritik nicht überblenden.

»Politik und Kunst«, Deutsches Historisches Museum Berlin, bis 9. Januar 2022.

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