Sydneys nächster Lockdown

Die australische Zero-Covid-Strategie war lange Zeit erfolgreich. Auf Dauer führt sie in eine Sackgasse

  • Barbara Barkhausen, Sydney
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Delta-Variante des Coronavirus zwingt etliche Staaten und Metropolen, für die die Pandemie abgehakt schien, in die Knie: Israel hat wieder die Maskenpflicht eingeführt, Lissabon ist abgeriegelt. Nun geht selbst Sydney wieder in einen Lockdown. Dabei galt die australische Fünf-Millionen-Einwohner-Metropole bisher als einer der Zero-Covid-Musterschüler in der Pandemie. Ein Ausbruch der Delta-Variante zwang am Wochenende die Stadt samt Umgebung in einen zunächst zweiwöchigen Lockdown. Offenbar hatte sich ein Taxifahrer beim Transport einer Flugzeugcrew in ein Quarantänehotel angesteckt. Mittlerweile sind mehr als 100 Covid-19-Fälle registriert.

Die Ministerpräsidentin des Bundesstaates New South Wales, Gladys Berejiklian, verkündete eine strenge Ausgangssperre. Die Bürger dürfen ihre Wohnung nur aus wenigen Gründen verlassen - etwa wenn sie zur Arbeit, zum Arzt oder zum Einkaufen gehen. Auch Sport im Freien ist erlaubt. Das Ziel sei, innerhalb der kommenden Wochen wieder eine Nullübertragung zu erreichen, sagte Berejiklian. Sie begründete den drastischen Schritt damit, dass die Kontaktnachverfolgung nicht mehr bei allen Infizierten möglich sei. Vor Sydney war schon Melbourne, die zweitgrößte Stadt des Landes, wegen des Auftretens der Delta-Variante in den Lockdown samt Ausgangssperre gegangen.

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Australien ist verhältnismäßig gut durch die Pandemie gekommen. Mit rund 30.000 Infektionen und 910 Toten hatte das Land das Geschehen deutlich besser im Griff als viele andere Teile der Welt. Dies verdankt Australien dem rigorosen Durchgreifen der Politik. So ließ die Regierung gleich im März 2020 keine ausländischen Besucher mehr auf den Kontinent. Auch im Inland schließen die meisten Bundesstaaten oder Großstädte je nach Covid-19-Lage ihre Grenzen.

Dies bescherte den Australiern die meiste Zeit ein recht normales Alltagsleben. Die Schattenseite war jedoch, dass zwischenzeitlich bis zu 40 000 Australier im Ausland feststeckten, nachdem Airlines immer wieder Flüge stornierten und die Ticketpreise explodierten. Auch die Ausreise ist nur über eine Ausnahmegenehmigung möglich. Nach heutigem Stand dürften die Grenzen noch bis mindestens Mitte 2022 geschlossen bleiben.

Sydneys Anti-Corona-Vorgehen galt bisher als der »Goldstandard« Australiens. Die Test-and-Trace-Strategie in New South Wales - Testen und Nachverfolgen - wird auch vom australischen Premierminister Scott Morrison als das »nachhaltigste Modell« gelobt. Außerdem ist das Gesundheitssystem in dem Landesteil besser in der Lage, auf Covid-19-Ausbrüche zu reagieren. So sind die öffentlichen Gesundheitseinheiten in die einzelnen Bezirke eingebettet. Der dezentrale Ansatz hat den Vorteil, dass die Kommunikation an die örtlichen Gegebenheiten angepasst werden kann, etwa indem Informationen in Gegenden mit hohem Anteil nicht-englischsprachiger Bürger auch in anderen Sprachen bereitgestellt werden.

In der Vergangenheit waren teils 300 Personen in Sydneys Kontaktverfolgungsteams angestellt. Bis ins kleinste Detail versuchen diese nachzuvollziehen, wo sich eine infizierte Person aufgehalten hat und welche anderen Menschen exponiert gewesen sein könnten. Dazu werden auch Daten herangezogen, die über eine App gesammelt werden. So müssen die Bewohner einen QR-Code scannen, bevor sie in Geschäfte, Restaurants oder öffentliche Einrichtungen gehen. Die Teams durchforsten zudem gemeinsam mit den Infizierten deren Terminkalender, Handyfotos oder Quittungen von Einkäufen, um deren Erinnerung aufzufrischen.

Der aktuelle Covid-19-Ausbruch ist aber auch eine Folge der schleppenden Impfkampagne Australiens. Nur rund sieben Millionen Impfdosen wurden bisher ausgegeben, erst gut vier Prozent der Gesamtbevölkerung von 25 Millionen sind vollständig geimpft. Wegen der geringen Fallzahlen sehen viele Australier die Dringlichkeit einer Impfung nicht; außerdem ist hier die Skepsis gegenüber Impfungen generell groß. Laut einer Modellierung des Burnet-Instituts der Universität Melbourne könnte die Impfskepsis, gepaart mit neuen Virusvarianten, dazu führen, dass noch längerfristig Ausgangssperren und Restriktionen wie aktuell in Sydney nötig sein werden.

Australien sind dank strenger Maßnahmen zwar katastrophale Todeszahlen wie in den USA, Europa oder Indien erspart geblieben, aber Experten mahnen schon seit einigen Wochen, dass dem Land eine Exit-Strategie fehle. »Teile der Bevölkerung wollen nach wie vor null Covid-Fälle, aber andere Leute kommen an den Punkt, an dem sie bereit sind, ein paar Fälle zu akzeptieren«, sagte Margie Danchin, Forscherin am australischen Murdoch Children’s Research Institute, im Interview mit dem Sender ABC. »Ich denke, auf absehbare Zeit müssen wir lernen, mit Covid zu leben.« Peter Collignon, Infektiologe an der Australischen Nationaluniversität in Canberra, schrieb in einem Beitrag für den »Guardian«: »Australien muss sich der Realität stellen: mit Covid leben oder eine Einsiedlernation werden.«

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Das Problem betrifft nicht allein Australien: »Es ist für viele Länder, die es geschafft haben, so lange eine Zero-Covid-Strategie aufrechtzuerhalten, jetzt eine schwierige Entscheidung, sich wieder zu öffnen«, sagt Michael Ryan, Leiter des Notfallprogramms der Weltgesundheitsorganisation. Schließlich würden sie damit riskieren, die Krankheit wieder zu importieren.

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