In der Fanzone baden gegangen

ZIRKUS EUROPA: Jirka Grahl inspiziert den Ofelia Plads im Kopenhagener Stadthafen

Wussten Sie, dass die Dänen radsportverrückt sind? Ich auch nicht, aber es ist wahr! Ja, mehr noch, in Wahrheit ärgern sich deswegen einige Kopenhagener sogar ein bisschen über die Fußball-EM: Denn die prächtige Uefa-Fanzone auf dem Ofelia Plads im Kopenhagener Stadthafen ist sonst jeden Juli eine Pilgerstätte der dänischen Radsportfans.

Auf jenen Großbildleinwänden, auf denen dieser Tage Tausende die Spiele der EM verfolgen, werden in jedem anderen Sommer die Etappen der Tour de France übertragen. Nur 2021 nicht, erzählt mir im Pressezentrum ein dänischer Kollege, der für die New Yorker Nachrichtenagentur AP arbeitet. »Das ist schon schade. Wir lieben Radsport, ich komme sonst oft hierher zum Tour-Gucken.« Spätestens seit Bjarne Riis’ Toursieg 1996 fühle sich Dänemark als Radsportnation, sagt er. »Und schau, unser kleines Land hat dieses Jahr gleich elf Starter im Peloton. Elf! Fünf Prozent des Starterfeldes. Ist das nicht verrückt?« Tja: Fast so verrückt, wie an einem sonnigen Nachmittag beim Bier mit Freunden eine Tour-de-France-Etappe zu gucken, denke ich, behalte den Gedanken aber für mich und nicke einfach nur anerkennend.

Als ich allerdings am Dienstag die Kopenhagener Fanzone selbst in Augenschein nehme, verstehe ich den AP-Kollegen plötzlich sehr gut: Das hier ist sicherlich das schönste Public-Viewing-Angebot bei dieser paneuropäischen Europameisterschaft; hier lässt sich in aller Gelassenheit vermutlich sogar stundenlang Tour gucken: Zu Füßen des Königlichen Dänischen Schauspielhauses hat die Stadt direkt am Wasser von einem Stararchitekten auf dem alten Kvaesthus-Pier den Ofelia Plads errichten lassen: 450 Meter lang, etwa 40 Meter breit, holzbeplankt.

Eine spektakuläre schwimmende Insel, in deren drei Untergeschossen sich ein Parkhaus erstreckt, das 500 Autos fasst. Die Fahrradstadt Kopenhagen gönnt sich hier selbstbewusst diesen kleinen Anachronismus, allerdings mit großem architektonischen Charme: In alle drei Etagen des Parkhauses wird Sonnenlicht geleitet. Wer tatsächlich nicht auf den herrlich breiten Radspuren zur Fanzone geradelt kommt, sondern das Auto nimmt, fährt auf tageslichtbeschienenen Rolltreppen-Kaskaden direkt hinauf in die Feierzone.

Oben auf dem Pier weht immer eine frische Ostseebrise, Ausflugsdampfer tuckern vorbei, das Meer schwappt freundlich glucksend an die schwarzen Betonstufen: Es darf gebadet werden, auch jetzt, wo das Pier zur Fanzone umfunktioniert ist. Wer Badesachen dabei hat, kann direkt von hier aus ins Meer springen. Es ist eigens ein kleiner Strand aufgeschüttet worden, samt Steg und Pseudoleuchtturm für Rettungsschimmer.

Leider habe ich meine Badehose am Dienstag nicht dabei, aber immerhin eine der 1000 limitierten Eintrittskarten für die große Leinwand. Wegen Corona gibt es namentlich registrierte Tickets und eine Menge Sicherheitsleute, die aufpassen sollen, dass die Menschen sich nicht zu nahe kommen. Die meisten reihen sich vor der Leinwand auf, ich nehme auf einer kleinen Holztribüne Platz. Die bisher nicht eben überzeugende deutsche Mannschaft muss im Wembley gegen Endland ran. Besser setzen!

Ich schaue mich um: Über uns kreisen die Möwen, auf dem Wasser liegen kleine Boote mit bestem Blick auf die Fanzone, die meisten Menschen ringsum tragen England-Trikots, allerdings sind durchaus auch ein paar der DFB-Elf zu sehen. Anpfiff. Die deutschen Kicker legen gut los. Anfangs bin ich noch so gut gelaunt wie die zwei jungen Männer aus Berlin, die rechts neben mir sitzen. Doch schon bald frohlockt hier am Ofelia Plads die Three-Lions-Fraktion: »Come on, England!« rufen sie Raheem Sterling und Co. zu und holen sich regelmäßig Sechserträger (45 Euro für sechs Fassbier im Plastikbecher).

Die Zeit verrinnt, Kroos und Co. stümpern auf der Leinwand vor sich hin, meine Stimmung sinkt. In der Halbzeitpause wirft der hinter mir sein Bier um. Mit halbnasser Hose ertrage ich die zweite Halbzeit, alles passt zu meiner Gemütslage. Nicht der Abend der Deutschen am Ofelia Plads!

Und dann kommt’s, wie’s kommen muss: 1:0 England, Müller vergibt seine Riesenchance, 2:0 England. Aus! Eine englische Kleinfamilie direkt vor mir vollführt ein Freudentänzchen. »Fuck off, Germany!«, ruft der Vater. Ringsum wird gelacht und gefeiert, was juckt die Dänen fremdes Elend? Sie sind ja schließlich noch dabei. Ich hingegen radele zurück zum Campingplatz. Football is coming home. Und die Deutschen auch.

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