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Fukushima spürt wenig von Olympia
Die Sommerspiele sollten helfen, neues Leben in die Katastrophengebiete von 2011 zu bringen. Von dem Plan ist wenig geblieben
»Das war ein ausgezeichneter Start«, sagt Eri Yamada am Mittwochvormittag vor einer Traube von Journalisten, die vor Aufregung plötzlich die Abstandsregeln vergessen. Die Kapitänin der japanischen Softballerinnen aber scheint sich mit Emotionen lieber zurückzuhalten. »Wir hoffen, dass wir damit jetzt ganz Japan aufheitern können.« Immerhin hatte das Team zwei Tage vor der offiziellen Eröffnungsfeier beim ersten Spiel im Rahmen der Olympischen Sommerspiele von Tokio gerade mit 8:1 gegen Australien gewonnen. »Aber die Atmosphäre ist etwas ungewohnt«, gibt Yamada auf Nachfrage zu.
Japans Öffentlichkeit schaut an diesem Tag ganz genau nach Fukushima. Die Spiele von Tokio zeichnen sich schließlich nicht nur durch die seltsame Atmosphäre aus, weil sie in der Corona-Pandemie stattfinden und fast überall, Fukushima inklusive, keine Zuschauer in die Stadien dürfen. Es gibt einen weiteren Grund, der für Entfremdung sorgt. Vor der Pandemie stand »Tokyo 2020« für ein großes Versprechen. Insbesondere dem Nordosten des Landes, wo Fukushima und das weiter nördliche Sendai liegen, wurde gesagt, die Spiele würden die »fukkou gorin« - die Wiederaufbauspiele.
Vor gut zehn Jahren, im März 2011, erlebte Japan die schlimmste Katastrophe seiner jüngeren Geschichte. Als zuerst die Erde mit einer historischen Stärke von 9,0 bebte, dann ein an die 20 Meter hoher Tsunami die Nordostküste des Landes überflutete, wurden ganze Dörfer vom Ozean geschluckt oder durch das Erdbeben zerstört. Hunderttausende verloren ihr Zuhause, ungefähr 20 000 Menschen starben. Als wäre das nicht genug, folgte darauf eine Unfallserie im an der Küste gelegenen Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. So mussten auch jene Einwohner landeinwärts das Weite suchen, deren Häuser der Tsunami oder das Erdbeben physisch nicht zerstört hatte. Die dort gemessene radioaktive Strahlung war viel zu hoch, als dass ein Leben dort noch möglich gewesen wäre. Nach den Kernschmelzen in den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 wurde im Umkreis von 30 Kilometern der Kraftwerksruine alles evakuiert.
Im Azuma-Stadion, wo am Mittwoch auf seltsam zurückhaltende Weise der sportliche Olympiaauftakt gefeiert wurde, ist von Schäden durch die Katastrophe nichts zu sehen. Evakuiert wurde hier aber auch nie, Fukushima-Stadt liegt 60 Kilometer landeinwärts. Kritiker halten den Slogan »Wiederaufbauspiele« daher für einen Affront gegen die früheren Bewohner der wirklich betroffenen Gebiete. Softballerin Yamada meint: »Was die Wiederaufbauspiele angeht, wollen wir einfach mit unserem Sport dazu beitragen.« Die defensive Haltung, mit der sie dies sagt, gibt zu verstehen, dass sie weiß: Sport ist längst nicht alles, was helfen könnte.
Einen Tag vor dem Olympiaauftakt an der Küste von Fukushima fährt Tatsuhiro Yamane mit seinem Auto durch das Dorf Futaba, wo die Atomruine schmort. »Hier war die alte Shōtengai, die Einkaufsmeile«, sagt der 36-Jährige und deutet die flache, verlassene Straße entlang. Es geht vorbei an einem zerfallenen Ziegeldach, das mal das Prachtstück eines buddhistischen Tempels war. Es folgt ein alter Fleischerladen: Die Fenster sind zersprungen, die Decke eingestürzt und drinnen alles verwüstet. Daneben steht ein verlassenes Uhrengeschäft, das so heruntergekommen ist, dass hier seit Jahren nur noch streunende Tiere hausen.
Tatsuhiro Yamane kam im Sommer 2013 als Aufbauhelfer nach Futaba. Der junge Mann aus Tokio heiratete eine evakuierte Frau aus dem Ort und hat heute zwei Kinder mit ihr. Seit Anfang des Jahres ist er auch Gemeinderatsmitglied, muss diesen Job allerdings wegen der weiter bestehenden Evakuierungsanordnung aus der eine Stunde südlich gelegenen Großstadt Iwaki ausführen. Tagsüber, wenn man derzeit nach Futaba darf, bietet Yamane Walking Tours für Besucher an - in der Hoffnung, auf die Situation aufmerksam zu machen. »Sobald es wieder möglich ist, wollen wir mit der Familie nach Futaba ziehen.« Gut 6000 Einwohner lebten einst in diesem Ort, den man heute Geisterstadt nennt.
Von Aufbruch ist hier nicht viel zu sehen. Die Idee der Wiederaufbauspiele war nicht nur hochtrabend, auch die historischen Vergleiche wurden wenig zurückhaltend gewählt. Im Jahr 1964 war Tokio erstmals olympischer Gastgeber. 19 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der für Japan mit Atombomben über Hiroshima und Nagasaki sowie Luftangriffen auf fast jede Großstadt geendet hatte, präsentierte sich Japan damals als wiederauferstanden. Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen raste durchs Land, die Hotels waren hochmodern, Olympia wurde erstmals weltweit live per Satellit übertragen.
Die diesjährigen Spiele von Tokio finden im gleichen Geist statt: Die Wehen der Krise sollen abgeschüttelt werden, der Blick von einer schmerzvollen Vergangenheit in die Zukunft gewendet werden. Und tatsächlich ist seit der Katastrophe einiges passiert. Vertreter der nationalen Regierung sowie der Präfektur von Tokio haben es zuletzt immer wieder betont: Mehr als 90 Prozent der im Frühjahr 2011 zerstörten Gebäude sind wiedererrichtet. Die Wirtschaftskraft der Region hat in etwa ihr Vorkrisenniveau erreicht, auch wenn sich die Umsätze der vergangenen Jahre nicht zuletzt durch die Wiederaufbauaktivität erklären. Zudem signalisiert man dem Ausland und anderen Regionen in Japan, dass die von hier in den Verkauf gehenden Lebensmittel wie Reis, Pfirsiche und Fisch sicher sind: Alles wird auf Radioaktivität überprüft. Und in die meisten der einst geräumten Orte haben Rücksiedlungen bereits begonnen. Noch rund 40 000 Personen sind offiziell evakuiert.
Es sind Zahlen, die man an der Küste von Fukushima gut kennt. Denn sie täuschen auch über die Realität hinweg. »Das mit den Wiederaufbauspielen war doch vor allem PR«, sagt Takanori Asami und wischt sich bitter lächelnd den Schweiß von der Stirn. Nach der Mittagspause, in der heute nur wenige Leute zum Essen gekommen sind, putzt er die stählerne Arbeitsplatte seiner Küche. Der Foodcourt, der im letzten Jahr an der Küste von Futaba eingerichtet wurde, als nebenan ein Museum über die Katastrophe von 2011 öffnete, ist eines der Wahrzeichen des bisherigen Wiederaufbaus. Aber es ist eben nicht nur das. »Man muss ja nur mal da drüben in die Ausstellung gehen und dann einen Spaziergang durch Futaba machen«, sagt der 45-Jährige. »Dann weiß man Bescheid.«
Asami bietet in seinem Restaurant Yakisoba an, ein Gericht würzig-süß gebratener Nudeln, für das der Nachbarort Namie bekannt ist. Die Stadt, in der er bis zur Katastrophe lebte, musste ebenfalls evakuiert werden, teilweise Rücksiedlungen wurden 2017 angeordnet. An einigen Stellen liegt die gemessene Radioaktivität dort heute unterhalb von 0,23 Mikrosievert pro Stunde. Dies ist der Richtwert der Regierung aus der Zeit vor der Atomkatastrophe. Vielerorts sind die Messwerte aber noch deutlich höher. Nach der Atomkatastrophe wurde der Schwellwert empfohlener Strahlenbelastung auf das 20-fache angehoben. So ist Namie, das durch Dekontaminierungsarbeiten vermeintlich sicher geworden ist, nun wieder bewohnt.
Doch die Angst ist mit eingezogen. »Du kannst es nicht riechen, schmecken oder fühlen. Es ist einfach da. Und dann ist da plötzlich ein Hotspot«, sagt Asami. »Das hier ist unsere Heimat. Aber sie ist anders als die alte, an die wir uns erinnern.« Und so findet er es unangebracht, dass die Olympischen Spiele nun unter dem Banner des Wiederaufbaus stattfinden - von den Risiken der Pandemie ganz abgesehen. »Ich bin selbst Sportler gewesen. Ich habe versucht, mich für die Spiele von Atlanta 1996 im Boxen zu qualifizieren. Aber das hier passt doch nicht zusammen.« Zumal zu Beginn der vermeintlichen Wiederaufbauspiele nicht nur ganze Orte evakuiert bleiben. Zu den Personen, die bis heute offiziell als evakuiert zählen, werden jene nicht hinzugerechnet, die nicht mehr zurückkehren wollten. Das sind vor allem junge Familien, die längst eine neue Heimat gefunden haben.
Tatsuhiro Yamane schaltet den Motor aus, als er ein Wohngebiet erreicht hat. Ein paar Bagger rollen hier, reißen alte Häuser ab. Er deutet hinter verwachsene Hecken und geht voran. »Hier lebte meine Frau mit ihrer Mutter, bis sie evakuiert werden mussten.« Ein stattliches Haus mit zwei Stockwerken und einem Vorgarten aus Kies. Als er die Glastür zum Wohnzimmer aufschiebt, gelangt abgestandener Geruch nach draußen. Die Decke ist eingestürzt, alte Kleider liegen auf dem Boden, ein Kalender dokumentiert das Jahr 2011. »Nach der Katastrophe hatten sie zwei Stunden Zeit, um das Wichtigste mitzunehmen.« Bis heute überlegen Yamane und seine Frau, ob sie das Haus abreißen lassen, da sie hier, wo die Strahlung weiterhin deutlich über den Grenzwerten liegt, ohnehin nie wieder einziehen werden. Aber so ein Schritt fällt schwer. Die meisten wollen nicht zurück: Eine Umfrage unter den evakuierten Bewohnern von Futaba hat ergeben, dass nur noch zehn Prozent wiederkehren wollen.
Haben die Olympischen Spiele bei der Erholung geholfen? Yamane überlegt und blickt stöhnend gen Himmel. »Hier spürt man nichts davon. All das Geld, das in die Olympischen Spiele investiert wurde, ist hier kaum angekommen. Die Bedürfnisse der Menschen wurden auch wenig angehört.« So zweifelt der Mann, der bis zu seiner Universitätszeit intensiv Baseball gespielt hat, ob er sich überhaupt für die Sommerspiele erwärmen kann, obwohl sein geliebter Sport hier in der Nähe ausgetragen wird. Beim Gedanken an den Slogan »fukkou gorin« sagte Yakisoba-Koch Takanori Asami: »Ich hoffe, dass mit Ende der Olympischen Spiele dann nicht auch gleich der Wiederaufbau für vollbracht erklärt wird.« Denn so weit sei man noch lange nicht. Vielleicht ist der vor Jahren noch so häufig ausgesprochene Slogan dieser Spiele auch deshalb am Mittwoch kaum erwähnt worden.
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