Wie Lukaschenko die Proteste überstand

Viele Belarussen sind weiter unzufrieden, auf die Straße gehen sie aber nicht mehr

  • Roland Bathon
  • Lesedauer: 5 Min.

Nach den Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 brach ein Massenprotest los, wie ihn das Land noch nie gesehen hatte. Landesweit gab es Demonstrationsserien mit mehreren Hunderttausend Teilnehmern, die nach vielfältigen Berichten über Manipulationen dem Amtsinhaber den offiziell verkündeten Sieg nicht glaubten. Heute, ein Jahr später, ist davon praktisch nichts mehr übrig.

Wie oft bei Massenbewegungen ist es nicht nur ein Faktor, der letztendlich zum Scheitern der Oppositionsproteste führte. Ihr Niedergang vollzog sich nach und nach im Laufe des Herbstes 2020 und wurde besiegelt, als es misslang, im Frühjahr die Proteste nach dem Winter erneut anzufachen. Eine Rolle spielte dabei natürlich die Brutalität der Sicherheitskräfte. Doch solche Härte ist immer gegenwärtig bei Krisen autoritärer Regierungen – und dennoch gibt es genug Beispiele, wo Umstürze gelangen.

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Ein Grund, warum es nicht zum Sturz des Präsidenten Alexander Lukaschenko kam, war dessen Krisenstrategie. Prominente Vertreter der Opposition wurden zur Ausreise aus Belarus gedrängt – oder sogar von Sicherheitskräften selbst zur Grenze gefahren. Mit diesem »Export« der Oppositionsführung in den Westen erreichte Lukaschenko zweierlei. Zum einen waren wichtige Identifikationsfiguren, denen viele Leute auf die Straße folgten, einfach nicht mehr vor Ort präsent. Zwar wurde versucht, die Arbeit der Opposition aus dem Ausland zu koordinieren. Doch wie Alexej Nawalny weiß, der deswegen trotz Verhaftungsgefahr zurück nach Russland ging: Im Ausland lässt der Einfluss nach. Das gilt auch in Belarus. Schon ein Ende Oktober von den Exilanten angestrebter Generalstreik scheiterte weitgehend bereits an zu geringer Beteiligung.

Zum anderen war es Teil der Strategie Lukaschenkos, die Opposition als vom Westen gesteuert zu diffamieren – um die Unterstützung Russlands zu erhalten. Noch Mitte 2020 war das Verhältnis der Regierungen in Moskau und Minsk tief zerrüttet, die Proteste waren zu Beginn ausdrücklich nicht gegen Russland gerichtet. Oppositionelle wie Swetlana Tichanowskaja zeigten sich gesprächsbereit gegenüber dem Kreml. Nach der Exilierung der Oppositionsführer in westliche Staaten versuchten diese aber zwangsläufig, von dort aus und nun westlich gestützt einen Umsturz zu erreichen. Auch begaben sie sich in westliche Abhängigkeit.

So war es für Lukaschenko ein Leichtes, den Kreml zu überzeugen, dass es in Minsk darum geht, eine von außen gesteuerte Farbrevolution zu verhindern – ein Horrorszenario auch in den Köpfen der Mächtigen in Russland. Zwar ist Lukaschenko für den Kreml kein verlässlicher Partner. Jedoch hatte er schon davor sein politisches Umfeld gesäubert und zu sich selbst, wie es der Minsker Politologe Artjom Schrajbman in einem Interview mit Telepolis ausdrückte, keine pro-russische Alternative hinterlassen. Die massive russische Unterstützung Lukaschenkos sorgte dann wiederum für eine Entmutigung der Opposition.

Währenddessen blieb Lukaschenkos Sicherheitsapparat weitgehend intakt, es gab nur wenige Überläufer zur Opposition, die die Gesamtstruktur nicht gefährdeten. Denn zum einen gehören Mitglieder der Nomenklatura zu denjenigen, die vom aktuellen System profitieren und – im Gegensatz zu vielen anderen – nicht unter ihm leiden. Zum anderen hatten Mitglieder des Sicherheitsapparats das für sie abschreckende Beispiel des Euromaidan vor Augen, wo Vertreter des alten Systems nach dem Umsturz oft direkt in Haft landeten. Dass dieser Umstand den Einsatzkräften auf Demonstrationen bewusst war, zeigt die Tatsache, dass sie maskiert agierten und auf die Wahrung ihrer Anonymität bedacht waren. Währenddessen blieb Lukaschenko mit martialischen Gesten präsent in Minsk. Das Signal war: Rückzug um keinen Preis.

Ein zentraler Grund für die Niederlage der Straßenopposition liegt im Wesen von Massenprotesten, wonach ein Kern von Aktivisten weniger politische und in Protesten unerfahrene Bürger mobilisiert. Zu Beginn stellten solche Menschen wegen der allgemeinen Unzufriedenheit mit Lukaschenko und seiner Wahlmanipulation die Masse der Demonstranten. Solche Menschen längerfristig bei der Stange zu halten, ist jedoch schwer. Das gilt umso mehr, wenn der Sicherheitsapparat stabil bleibt, der mächtigste Nachbar den alten Präsidenten stützt und die Oppositionsprominenz weit entfernt im Exil weilt. Die Oppositionsbewegung im Landesinneren bröckelte entmutigt ab, bis sie erlahmte. Aus der Distanz zwischen den Inländern und den Exilanten kann sogar eine Entfremdung werden, wenn wie jetzt Exil-Oppositionelle westliche Sanktionen fordern, von denen die zurückgebliebenen Belarussen als Leidtragende betroffen sein werden.

Die Unzufriedenheit mit dem System Lukaschenko besteht aber weiter, und zwar nicht nur gegenüber dem Präsidenten selbst, sondern gegenüber dem gesamten Apparat, der sich unter seiner Herrschaft bequem eingerichtet hat. Das zeigt sehr gut das aktuelle Beispiel der aus Tokio geflüchteten Kristina Timanowskaja, die nicht wegen Kritik an Lukaschenko, sondern an regierungstreuen Sportfunktionären in Ungnade fiel. Sie gehört nicht zur Avantgarde der Opposition, doch Belarussen wie sie tragen Unzufriedenheit in sich.

Auch die heftigen Aktionen gegen unabhängige Zeitungen im Land zeigen, dass es dem Apparat bewusst ist, wie viel Protestpotenzial noch existiert, das von neuen Ereignissen angefacht werden kann. Die Bilanz ein Jahr nach dem Beginn der Massenproteste in Belarus ist, dass Lukaschenko vorerst tatsächlich gesiegt hat – ob auf Dauer, muss die Zukunft erst zeigen.

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