Die Krönung der Karriere

Deutschlands erfolgreichster Kanute Ronald Rauhe holt mit dem Kajak-Vierer die Goldmedaille und beendet seine Laufbahn

  • Michael Wilkening, Tokio
  • Lesedauer: 4 Min.

Den letzten Schlag seiner Laufbahn versemmelte Ronald Rauhe. Zumindest sahen seine Teamkollegen das so. »Ich weiß nicht genau, was da war, aber es hat sich im Boot komisch angefühlt«, erklärte Tom Liebscher später. Der 28-Jährige sitzt seit ein paar Jahren direkt hinter Rauhe und hat ihn schon viele perfekte Paddelschläge setzen sehen, aber der finale war nix. Er war nicht mehr nötig, und Rauhe wusste das. In seiner Karriere hat Rauhe in derart vielen großen Rennen in einem Kajak gesessen, dass er wusste, dass es geschafft war. In einem famosen Zielspurt hatten Rauhe, Liebscher, Max Rendschmidt und Max Lemke das spanische Boot abgehängt - und im Hafen von Tokio die Goldmedaille im Kajak-Vierer über 500 Meter gewonnen. Rauhe, der in ein paar Wochen 40 Jahre alt wird, erhielt den perfekten Abschluss und hatte dafür nicht einmal mehr den perfekten letzten Schlag benötigt.

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Die Emotionen übermannten den Familienvater schon beim Überfahren der Ziellinie. In der direkten Vorbereitung auf die Wettfahrten in Tokio wurde der Senior des Teams durch eine Handgelenksverletzung zurückgeworfen. Zwischenzeitlich war fraglich, ob es deshalb einen personellen Wechsel im Erfolgsboot des Deutschen Kanu-Verbands (DKV) geben muss. Rauhe musste um seine sechsten Olympischen Spiele zittern, fünf Jahre Durchhalten nach den Spielen in Rio de Janeiro drohten, unbelohnt zu bleiben. »Wir sind eine Familie, da hilft man sich über schwere Zeiten hinweg«, sagte Rendschmidt. Wenn man gemeinsam in einem Rennboot sitzt, ist das manchmal wie in einer Ehe. Man wächst noch stärker zusammen, wenn man Krisen gemeinsam bewältigt hat. Rauhe hat also zwei Familien - und beide rührten ihn zu Tränen. In der Heimat nahe Berlin saßen Frau und Kinder vor dem Fernseher und jubelten mit, als die Goldmission erfüllt war. »Mein Sohn wird in ein paar Stunden eingeschult, und trotzdem saßen alle nachts um drei Uhr vor dem Fernseher«, berichtete er mit einem dicken Klos im Hals.

Auf dem Sea Forest Waterway, wie die Rennstrecke in Tokio heißt, endete eine olympische Karriere mit einer Goldmedaille, die 21 Jahre zuvor in Sydney ihren Anfang genommen hatte. Bei Rauhes ersten Spielen im Jahr 2000 hatte er sich eine Bronzemedaille im Kajak-Zweier gesichert, bis zum Ende in Japan hatte er insgesamt vier Mal Edelmetall eingesammelt. Seine zweite Goldmedaille kam in Tokio hinzu.

Rauhe musste mit seinen Kollegen aus dem K4 die Last eines gesamten Verbandes schultern. Schon vor dem finalen Rennen auf der Regattastrecke war klar, dass der DKV ein historisch schlechtes Ergebnis einfahren würde. Zuletzt war die Bilanz 1984 derart schlecht. Eine Silbermedaille im K2 und eine Bronzemedaille im C2 hatte es gegeben - und das Vorzeigeboot sollte die Bilanz mächtig aufpolieren. Seit 2017 waren die Deutschen in identischer Besetzung bei großen Rennen ohne Niederlage geblieben und deshalb einer der klarsten deutschen Gold-Anwärter bei den Spielen in Tokio. »Alles andere als Gold wäre eine Enttäuschung«, hatte Lemke im Vorfeld gesagt. Der Anspruch war hoch. Der Totalschaden am eigenen Boot, entstanden bei der Verladung auf dem Weg nach Tokio, änderte daran nichts. Das Ersatzboot traf rechtzeitig in Japan ein. »Die letzte Zeit war mental belastend«, räumte Rauhe ein.

Im Rennen war davon nichts zu spüren. »Die Jungs haben den Plan perfekt umgesetzt«, sagte der leitende Bundestrainer Arndt Hanisch: »Das war das beste Rennen der vergangenen fünf Jahre.« Im Laufe der Zeit haben sich die vier Athleten perfekt aufeinander eingestellt, auf dem Wasser in Tokio verschmolzen vier Sportler und ein Boot zu einer perfekten Symbiose. Rendschmidt gab am Schlag den Rhythmus vor, Rauhe brachte seine Explosivität am Start durch das Paddel ins Wasser, Liebscher sorgte mit seiner stoischen Art für gleichmäßiges Fortkommen und Lemke ganz hinten im Boot dafür, dass die Richtung gehalten wurde. Außerdem hat der Mannheimer Lemke die Fähigkeit, die volle Kraft ins Wasser zu bringen, obwohl er hinten die kürzeste Kontaktzeiten mit dem Element hat. Auf dem höchsten Niveau ist Kajakfahren längst eine kleine Wissenschaft für sich.

Die Deutschen mit Rauhe hatten die Technik im Griff und schafften es, das Können jedes Einzelnen in die bestmögliche Gesamtleistung umzuwandeln. Der Lohn der vier Kanuten war die Goldmedaille, und für den Senior im Team kam eine weitere Auszeichnung hinzu. Der 39-Jährige trug bei der Abschlussfeier die deutsche Fahne ins Olympiastadion. »Das ist die Krönung meiner Karriere«, sagte Rauhe - und schon wieder schossen ihm Tränen in die Augen.

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