»Erst dachte ich, hier wird ein Film gedreht«

Die Konzertbesucher im Pariser Club Bataclan waren den IS-Terroristen über Stunden hilflos ausgeliefert

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 5 Min.

Es wird ein Prozess, der viele Dimensionen sprengt. In welchem Umfang er zu den Hintergründen und Drahtziehern der Terrornacht in Paris im November 2015 neue Erkenntnisse bringen wird, ist offen. Wo sich sechs der Hintermänner zu den Attentaten befinden und ob sie überhaupt noch leben, ist ungeklärt. So stehen nur 14 der 20 Angeklagten persönlich vor Gericht, gegen das restliche halbe Dutzend wird in Abwesenheit verhandelt. Geklärt ist dagegen der Ablauf der Anschlagserie bis ins Detail.

Die Ermittlungsergebnisse und Protokolle füllen 440 Aktenordner. Demnach hat am Abend des 13. November das von Nordsyrien aus durch den Islamischen Staat (IS) gesteuerte Terrorkommando, das am Vorabend aus Belgien angereist war, fast zeitgleich an drei Orten in Paris und Umgebung mit Schusswaffen und Bomben insgesamt 130 Menschen getötet und 350 verletzt, davon jeden Dritten schwer. Zunächst wurden vor dem Stade de France im Pariser Vorort Saint-Denis, wo gerade in Anwesenheit von Präsident François Hollande ein Fußballspiel zwischen Frankreich und Deutschland ausgetragen wurde, drei Bomben gezündet, durch die neben den drei Selbstmordattentätern ein Passant ums Leben kam.

Das von den Terroristen geplante Eindringen ins Stadion war von aufmerksamen Ordnern verhindert worden. Nur Minuten später richteten die Insassen von zwei Autos des Kommandos in der Pariser Innenstadt auf den Terrassen vor fünf Cafés ein Blutbad an. Die Attentäter schossen mit Maschinenpistolen auf die Gäste und zündeten zum Abschluss mitten unter ihnen einen Sprenggürtel, um möglichst viele Opfer mit in den Tod zu reißen. Insgesamt wurden so 39 Menschen ermordet.

Das vierte Auto des Kommandos nahm Kurs auf den Konzertsaal Bataclan, wo gerade vor 1500 Zuhörern ein Rockkonzert der US-amerikanischen Band Eagles of Death Metal stattfand. Die drei Attentäter schossen am Eingang die Ordner nieder, drangen in den Saal ein und feuerten mit ihren Maschinenpistolen wild in die Menge. »Erst dachte ich, hier wird ein Film gedreht und wir sind die Statisten«, erinnert sich die 31-jährige Irène in einer Dokumentation des Fernsehsenders Arte. »Doch dann begriff ich, dass es blutiger Ernst ist. Neben mir brach meine Freundin Jeannette zusammen. Sie war sofort tot. Ich habe getan, als ob ich es auch sei, und habe so stundenlang gelegen, bis endlich die Polizei kam.« Dr. Patrick B. war als diensthabender Arzt anwesend. »Ich kannte das Bataclan sehr gut und so konnte ich einigen Dutzend Menschen den Weg zu einem Notausgang weisen«, schildert er seine Eindrücke in der Dokumentation. Draußen leistete er Verletzten Erste Hilfe, bis medizinische Verstärkung kam. »Ein junger Mann ist unter meinen Händen gestorben, seine Verletzung war zu ernst«, sagt er. »So etwas vergisst man nie.«

Polizisten auf der Straße, die die Schüsse im Bataclan gehört hatten, forderten eine zufällig vorbeikommende und mit Sturmgewehren ausgerüstete Militärstreife zum Eingreifen auf. Die Militärs riefen ihren Vorgesetzten an, doch der verbot ihnen, aktiv zu werden und sagte zur Begründung: »Wir sind doch nicht im Krieg.« Offenbar hatte er nicht die Fernsehansprache des gerade erst ins Elysée zurückgekehrten Präsidenten Hollande verfolgt, der mit bleichem Gesicht erklärte: »Frankreich ist im Krieg mit dem Terrorismus.«

Am Morgen des 13. November hatte der Untersuchungsrichter für Terrorismusaffären Marc Trévidic in einem Interview erklärt: »Frankreich ist zurzeit das wichtigste Ziel der islamistischen Terroristen. Hier wollen sie den nächsten großen Anschlag verüben, der ähnlich spektakulär sein soll wie der 11. September 2001 in New York. Für uns stellt sich nicht die Frage, ob es dazu kommt, sondern nur, wann.« Stunden später war es so weit.

Während sich die Polizei darauf beschränkte, den Häuserblock zu isolieren, hielt vor dem Bataclan das Auto eines Kommissars der Kriminalpolizei, der hier dienstlich überhaupt nicht zuständig war. Außerdem setzte er sich über jegliche Vorschriften hinweg, indem er spontan zusammen mit seinem Fahrer mit der Pistole in der Hand das Gebäude betrat. Auf der Bühne begegnete er einem der Attentäter, der gerade auf einen jungen Mann zielte, und streckte ihn mit vier Schüssen seiner Dienstwaffe nieder. Dieser Kommissar, der sein Leben riskierte und das anderer Menschen rettete, ist bis heute anonym geblieben und es ist auch nicht bekannt, ob ihm jemand für seine mutige Tat gedankt hat.

Die restlichen zwei Attentäter zogen sich mit einer Gruppe von Geiseln ins Obergeschoss eines Seitenflügels des Gebäudes zurück und forderten als Gegenleistung für die Freilassung, dass Frankreich unverzüglich sein militärisches Engagement in Syrien und im Irak gegen den Islamischen Staat einstellt. Die Polizei zog die Verhandlungen so lange hin, bis endlich nach Mitternacht Spezialeinheiten von Polizei und Gendarmerie in Stellung gegangen waren und das Bataclan im Sturm befreiten. Dabei sprengten sich die beiden Attentäter zusammen mit einigen der Geiseln in die Luft. Insgesamt kamen im Bataclan 90 Konzertbesucher ums Leben.

So wie der Anschlag vom November 2015 der größte jemals in Frankreich verübte Terrorakt war, so sprengt jetzt auch der Prozess jeden Rahmen. Für ihn wurde extra aus Holzelementen ein 750 Quadratmeter großer Verhandlungssaal in der riesigen Halle des historischen Justizpalastes auf der Pariser Île de la Cité errichtet, der durch den Umzug der Gerichte und der Justizbeamten in einen Neubau im Norden der Stadt 2018 frei geworden war. Der Prozess ist auf neun Monate veranschlagt und von den 1800 Personen, die durch den Anschlag direkt oder indirekt betroffen waren, sind 300 als Zeugen geladen. Zu ihnen gehören auch der seinerzeitige Präsident François Hollande und sein Innenminister Bernard Cazeneuve. Als Verteidiger der 14 anwesenden Angeklagten oder als Vertreter der insgesamt 1700 Nebenkläger nehmen 330 Anwälte teil. Die Verhandlungen können von 550 Zuschauern live verfolgt werden, doch Videoaufnahmen werden in zehn weitere Säle übertragen und wegen seiner historischen Tragweite wird der Prozess ausnahmsweise auch komplett gefilmt. Die Aufnahmen werden archiviert und später Historikern zugänglich gemacht.

Lydia, die eine Überlebende des Bataclan ist und zu den 1700 Nebenklägern gehört, hat das Justizverfahren mit Ungeduld erwartet. »Viele bezeichnen es als den Prozess des Jahrhunderts«, sagt sie, »aber für mich ist es der Prozess meines Lebens, das nie wieder sein wird wie zuvor.«

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