Zwölf Leben

»Corona in Buchenwald«: Ivan Ivanji hat ein Vermächtnis der letzten KZ-Überlebenden formuliert

Es ist nur eine Frage der Zeit, dass die Coronakrise zum Großthema der Literatur wird. Denn sie hat alles, was Literatur braucht: Widersprüche, Tragik, Helden, Verlierer, Versager, erbitterten Streit, menschliche Größe, große Emotionen, politischen Hintergrund, philosophische Tiefe. Wie es eben ist, wenn es um Leben und Tod geht.

Einer der Ersten, die sich der Pandemie literarisch näherten, ist Ivan Ivanji. Der serbische Romancier ist ein Jahrhundertzeuge. Geboren 1929 in einer jüdischen Ärztefamilie, wurde er 1944 von den deutschen Besatzern ins KZ Auschwitz verschleppt, dann nach Buchenwald gebracht, wo er in Außenlagern Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten musste. Er überlebte, wurde nach dem Krieg Lehrer, Theaterintendant, dolmetschte für den legendären Staatschef Josip Broz Tito. Und er schrieb. Seine großen Themen: der Krieg, das Schicksal der Juden, das Erbe des Stalinismus.

Dass er in seinem jüngsten Werk nach Buchenwald zurückkommt, ist also ein Kontinuum in seinem Werk. Schon 1999 hatte er mit »Der Aschenmensch von Buchenwald« eine Hommage an im KZ Buchenwald ermordete Kameraden veröffentlicht. Ivanji gehört zu den unermüdlichen Überlebenden, die an die Nazizeit erinnern und die NS-Verbrechen nicht dem Vergessen überlassen wollen. Im April 2020 verlieh ihm die Stadt Weimar die Ehrenbürgerschaft – Ivanji konnte die Ehrung nur aus Ferne entgegennehmen, denn die Coronakrise verhinderte den geplanten Festakt, und die Anreise war für ihn mit über 90 nicht möglich.

Vielleicht animierte genau das den Autor dazu, sich vorzustellen, was wäre, wenn. Was wäre, wenn eine Gruppe Buchenwald-Überlebender dem Virus trotzt und ungeachtet aller Einschränkungen nach Weimar fährt, um wie jedes Jahr der Befreiung und Selbstbefreiung des Konzentrationslagers im April 1945 zu gedenken? Und so quartiert er sie ein im schon aus Goethes Zeiten berühmten Hotel »Elephant«; sie wollen sich das Zusammenkommen nicht nehmen lassen, denn niemand weiß, ob sich die Runde der Hochbetagten im Jahr darauf noch einmal treffen kann. Jede Begegnung könnte ein Abschied sein. Erst in diesem Jahr starben Günter Pappenheim und Bertrand Herz, zwei einstige Häftlinge, die sich über Jahrzehnte um die Erinnerungsarbeit verdient gemacht haben.

Zwölf Männer sind es aus ganz Europa und aus Nordamerika, zwölf wie die Apostel beim berühmten Abendmahl. Sascha, der Serbe – im Roman das Alter Ego des Autors –, hat die Idee, einander Geschichten zu erzählen. Denn zwar hat die Stadt Weimar die einstigen KZ-Häftlinge nicht abgewiesen, aber sie müssen in Quarantäne, gerade sie, die Alten. Anfangs sogar in Einzelquarantäne in ihren Zimmern. Doch immerhin, die Gedanken sind frei. So finden die Gespräche nicht an einer langen Tafel statt, sondern zunächst online, per Livestream, bei dem die mitreisenden Kinder und Enkel behilflich sind, später dann im Saal.

Ivanji lässt ganz verschiedene Leute, ganz unterschiedliche Typen erzählen. Ein französischer Diplomat ist dabei, ein griechischer Sportlehrer, ein ungarischer Journalist, ein bayerischer Gastwirt, ein dänischer Polizist, ein russischer Offizier. Zwölf erfüllte Leben, die früh geendet hätten, wäre es nach den Absichten der Nazis gegangen. Was die zwölf berichten, ist nicht so heiter wie die Geschichten aus dem Decamerone, das als Idee Pate stand. Es sind fast ausschließlich Erzählungen aus der Hölle der NS-Diktatur.

Der eine landete als Kriegsgefangener in Buchenwald, der andere als Widerstandskämpfer, ein dritter als Zeuge Jehovas. Es gab viele Gründe, Opfer der Faschisten zu werden.
Kein Schicksal ist wichtiger als die anderen, keines zählt geringer. Es sind Berichte über die unglaubliche Brutalität des Naziterrors und über die Frage, wie man sich unter solchen Umständen die Menschlichkeit bewahren kann. Und natürlich schwingt die Frage mit: Was, wenn sie alle gestorben sind, die das Grauen erlebten? Wer erinnert dann an sie, wer trägt ihr Wissen, ihre Erfahrungen weiter? Wird es 100 Jahre nach der Befreiung noch »jemand geben, der das feiern will«?

Viele Fragen bleiben offen. Die Alten werden sie nicht mehr beantworten können. Ivanji hat mit diesem Buch eine Art Vermächtnis der letzten Überlebenden formuliert. Und einen Aufruf, in neuen Weltkrisen nicht die Humanität zu verlieren: »Ich bitte alle, die mich hören, inständig, schenken Sie Ihre Empathie denjenigen, die heute verfolgt werden, fliehen, an Grenzen geschunden werden, in Lagern hungern und darben, im Meer ersaufen«, lässt er sein Alter Ego bei einer kurzen Ansprache in der KZ-Gedenkstätte sagen. »Suchen Sie keine Begründungen, zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, ihr Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen.«

Und ganz nebenbei gibt das Erinnern an die Leiden in der Nazizeit all jene Querdenker, die von einer Corona-Diktatur fantasieren, der verdienten Lächerlichkeit preis.

Ivan Ivanji: Corona in Buchenwald. Picus-Verlag, 254 S., geb., 24 €.

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