»Es ist möglich, mit Leuten über soziale und ökologische Transformationen zu sprechen«

Bewegungsaktivistin Nina Treu über ihre kleinen Erfolge im Wahlkampf der Linken in Leipzig

  • Ulrich Brand
  • Lesedauer: 9 Min.

Warum haben Sie sich dazu entschieden, für den Bundestag zu kandidieren?

Ich bin schon lange politisch aktiv. In den vergangenen zehn Jahren habe ich das Konzeptwerk Neue Ökonomie in Leipzig mit aufgebaut. Dort versuchen wir einen Brückenschlag zu machen zwischen Wissenschaft, sozialen Bewegungen und parlamentarischer Politik. Hierbei ist mir immer wieder aufgefallen, dass unsere Vorschläge zum Thema Klimagerechtigkeit und Postwachstum ganz weit weg sind von realpolitischen Handlungen in den Parlamenten. Ich denke, dass wir den Bundestag stärker mit der Realität konfrontieren und in die Debatten eine echte radikale soziale und ökologische Transformationsperspektive einbringen sollten. Das ist mein Ziel. Deswegen kandidiere ich.

Interview

»Die Wirtschaft der Zukunft gestalten. Klimagerecht, demokratisch und für alle« – mit diesem Motto tritt Nina Treu (37) für die Linke bei der Bundestagswahl in Leipzig an. Sie ist Bewegungsaktivistin und hat das Konzeptwerk Neue Ökonomie mitgegründet. Warum sie in das Parlament möchte und welche Erfahrungen sie mit einem dezidiert linken Wahlkampf macht, darüber sprach sie mit Ulrich Brand, der als Professor für Internationale Politik an der Universität Wien forscht und lehrt.

Brand gibt die »Blätter für deutsche und internationale Politik« mit heraus und arbeitet von September 2021 bis August 2022 als Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. 

Wann haben Sie gesagt, jetzt mache ich es?

Klimapolitisch wird die nächste Legislatur entscheidend, um die Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen. Dafür muss sich bekanntlich sehr viel ändern. Neben sozialen Bewegungen, die Druck auf der Straße machen, bedarf es auch Menschen, die in den Parlamenten für gerechte Lösungen und Alternativen zum Bestehenden streiten. Ich denke, vielen Abgeordneten durch alle Parteien hindurch ist immer noch nicht klar, wie existenziell die Bedrohung durch die Klimaveränderung ist und wie sehr sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern müssen, damit wir diese eindämmen können.

Was sind Ihre Erfahrungen im Wahlkampf? Sie sind eine Seiteneinsteigerin und können sicherlich nicht in dem Umfang auf die Netzwerke in der Partei zurückgreifen wie andere.

Es gibt schon Netzwerke, auf die ich zurückgreifen kann. Das sind vor allem die offenen Abgeordnetenbüros in Leipzig, die sich kollektiv organisieren und einen sehr partizipativen Ansatz haben. Es gibt bundesweit und auch in Sachsen die innerparteiliche Strömung Bewegungslinke; außerdem bin ich eng im Kontakt mit dem SDS, dem Studierendenverband der Linken, und der Linksjugend. Schließlich komme ich aus einer basisdemokratischen Bewegung, wir wollen Leute aktivieren, keine Politik von oben herab machen, sondern Leute empowern.

Deshalb habe ich auch ein offenes Wahlkampfcamp aufgebaut, wo wir uns bislang einmal im Monat getroffen haben und jetzt alle zwei Wochen. Alle, die Lust haben, können dort mitmachen. Wir organisieren uns in Arbeitsgruppen, wo sich alle so viel einbringen können, wie sie möchten.

Jetzt haben Sie als Kandidatin Kontakt mit Menschen, die Sie ansprechen. Über was wollen die Leute reden?

An den Haustüren frage ich die Leute natürlich, was sie gerade beschäftigt. Und das ist alles Mögliche: ihre Arbeit, gute, schlechte, niedrige Löhne, Ausbeutung, aber auch Zufriedenheit, Flexibilität. Leute beschäftigen sich natürlich viel mit der Coronakrise, wer dafür bezahlt, wie es jetzt weitergeht. Da gibt es auch einige, die Verschwörungstheorien anhängen, die sagen, mit Corona wird alles übertrieben. Aber es gibt viele, die sich einfach Sorgen machen, wer ihre Jobs weiterbezahlt. Oft geht es auch um bezahlbare Mieten.

Das heißt, Sie gehen allein von Tür zu Tür? Klingeln und sagen: »Ich bin Nina Treu, ich kandidiere für den Bundestag«, oder wie läuft das?

Wir sind gemeinsam in Teams unterwegs, in denen wir uns absprechen können. Ich sage an der Haustür nicht sofort, dass ich Kandidatin bin, weil ich das Gefühl habe, dass ich damit die Menschen überfordere. Manche sind tatsächlich schüchtern und sagen erst mal gar nichts; andere sind aber auch interessiert und reden gleich ganz viel. Und was ganz interessant ist: Die Bundeszentrale der Partei hat ausgegeben, dass wir an der Tür auch Mitglieder werben können, und ich dachte, dass tun wir auf keinen Fall. Aber es funktioniert. Da gibt es Leute, die wollten schon immer in die Linke eintreten und haben nur irgendwie darauf gewartet, dass sie abgeholt werden.

Die Themen bei den Infoständen sind ähnlich wie an den Haustüren?

Ja. Die Themen sind immer ähnlich. Der Konflikt um Sahra Wagenknecht ist auch immer präsent. Die Leute fragen: »Was macht Ihr mit der Sahra? Da wurde ein Ausschlussantrag gestellt.« Sie bekommen das mit, aber ich bin noch nicht auf Menschen getroffen, die auf diesen Konflikt beharren. Wenn ich sage: »Hey, das Ausschlussverfahren wurde gerade beendet, und wir sind hier in Sachsen, uns interessiert Folgendes, lasst uns über mal darüber sprechen, was wir gut machen, was uns verbindet.« Dann kommt das an.

Viele Leute sind ja skeptisch, ob es überhaupt möglich ist, mit anderen über den notwendigen gesellschaftlichen Umbau zu sprechen, über sozial-ökologische Transformationen und das Postwachstum. Aus meiner Perspektive ist das sehr gut möglich, und es lassen sich die Themen gut verbinden; Leute haben Interesse über das Wirtschaftssystem zu sprechen; sie haben Interesse zu verstehen, woran es eigentlich hakt.

Kommt auch Kapitalismuskritik vor?

Durchaus. Beispielsweise wird gesagt: »Da gibt es die Wenigen, die wirtschaften in ihre eigene Tasche, wir haben dagegen einen zu geringen Lohn, während andere Gewinne machen.« Da wird schon eine systemische Ebene gesehen. Aber mich erschreckt, dass die Leute wohl nicht gewohnt sind, sich nach oben zu verbünden und zu kämpfen, sondern sie treten nach unten. Ich habe sehr viel Ausländerfeindlichkeit und Rassismus bemerkt, so in der sozialdarwinistischen Art: »Die Schmarotzer, die arbeiten nicht, die sollen mal arbeiten gehen.« Das ist krass, ich weiß ja, dass linke Positionen nicht hegemonial sind, aber es ist echt schockierend, solche Positionen zu hören.

Wie reagieren Sie darauf?

Ich diskutiere dann mit ihnen und sage, dass es am System liegt und dass sie vielleicht eher so darauf schauen sollten, dass es den Menschen, auf die sie herumhacken, genauso schlecht geht wie ihnen und wahrscheinlich noch schlechter. Ich hatte mal einen ganz spannenden Fall mit einem Hausverwalter, der war krass rassistisch. Ich habe dann gesagt, dass das menschenfeindliche Positionen sind und dass das, was gesagt wurde, echt nicht in Ordnung ist. Da hat er gesagt, okay, er nehme es zurück. Ich dachte dann: Wow, wir sind einen Schritt weitergekommen.

Sie sind ja Bewegungsaktivistin und haben einen nicht unwichtigen Thinktank mit aufgebaut; nun gehören Sie vielleicht bald zum politischen Spitzenpersonal der Republik. Welche Inhalte möchten Sie voranbringen? Gibt es da schon Vorabsprachen in der Partei?

Es gibt Vorabsprachen. Sabine Leidig, langjährig in der Verkehrspolitik im Bundestag engagiert, tritt nicht mehr an. Sie hat sich an mich und ein paar andere Leute gewendet und gemeint: »Mein Feld wird frei, sozial-ökologische Politik und vor allem Verkehrspolitik. Besetzt das doch bitte.« Das ist schon naheliegend für mich, denn ich stehe ja für sozial-ökologischen Umbau und das anhand von einem Thema, zu dem Sabine schon viel Vorarbeit geleistet hat. Die Verkehrswende wird eines der zentralen Auseinandersetzungen werden, Fragen, wie die Autoindustrie umgebaut werden kann oder wie stark wir künftig auf den Individualverkehr setzen, werden kommen.

Die Linke sieht sich als Transformationspartei, steht für einen radikalen sozial-ökologischen Umbau. In der Öffentlichkeit wird sie aber eher als Umverteilungspartei und Partei gegen die neoliberalen Hartz-Reformen wahrgenommen. Wie gehen Sie damit um?

Es gab letztens eine Sendung aus der Serie »Die Anstalt«, bei der gesagt wurde, die Grünen werden für das gewählt, was sich die Linke ins Wahlprogramm geschrieben hat. Ich sehe meine Rolle darin, diese Positionierung innerhalb der Partei weiter voranzutreiben. Damit wir bewegungsnäher werden, damit verstanden wird, dass die Klimafrage eine Gerechtigkeitsfrage ist und dass, wenn es um die globale Gerechtigkeit geht, wir die ökologischen Fragen nicht außen vorlassen dürfen. Das ist natürlich auch ein Machtkampf innerhalb der Partei.

Es gibt ja eine politische Großwetterlage, die mit dem European Green Deal in Richtung eines Grünem Kapitalismus geht. Was haben Sie daran auszusetzen?

Wir müssen sagen, wie es ist: Ein Grüner Kapitalismus wird nicht funktionieren, weil wir nicht die Ressourcen haben, den Kapitalismus zu begrünen. Die Probleme, die wir weltweit haben, sind auch jene von Verteilung und Gerechtigkeit, und die lösen wir mit dem Grünen Kapitalismus nicht. Und dass sich Ökoaktivist*innen und Menschen, die versuchen, klimafreundlich zu leben, einer Illusion hingeben, wenn sie denken, die Grünen werden es schon irgendwie für sie richten. Wir versuchen da einen Gegenpol aufzubauen, und das ist ja auch die Aufgabe der Linken.

Sie bestehen ja auf einer Politik für globale Gerechtigkeit. Wie bekommen Sie das Globale da rein?

Das ist schwierig, weil man dafür ausholen muss. Wir sehen, es sterben weltweit Menschen aufgrund des Klimawandels, aber wir können die Augen davor verschließen. Wenn jetzt beispielsweise bei der Flutkatastrophe auch Menschen bei uns sterben, dann sehen wir plötzlich, was eigentlich weltweit die ganze Zeit schon passiert. Also Anlässe zu nutzen, um zu sagen, jetzt kommt die Katastrophe auch bei uns an. Und wir müssen natürlich auch globale Ausbeutungsverhältnisse ansprechen. Ich nehme immer als Beispiel die Autoindustrie. Wenn wir über den Umbau sprechen, dann müssen wir fragen: Woher kommt denn das Lithium für die Batterien, das unter menschenunwürdigen Bedingungen abgebaut wird; wo bekommen wir denn Wasserstoff her; und welche Energien müssen wir den Menschen in Afrika vorenthalten?

Das Globale findet ja auch hier statt. Es wird einen tiefgreifenden Umbau unserer Produktions- und Lebensweise geben müssen.

Genau. Ich habe kürzlich ein interessantes Interview gelesen mit dem CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer und dem Grünen Cem Özedmir. Özdemir meint darin: »Ja, wir wollen 48 Millionen Autos elektrifizieren«; und ich denke dann: Wo kommen eigentlich die ganzen Ressourcen dafür her? Die Grünen blenden Ressourcenfragen komplett aus. Dagegen sagen wir: Wir brauchen eine Verkehrswende, müssen mehr auf den ÖPNV, Fahrrad und Fußwege setzen, müssen unsere Städte so umbauen, dass sie klima- und menschenfreundlich werden. Und wir müssen uns überlegen, was wir statt Autos noch bauen können in Deutschland.

Und das kommt an, das nehmen die Menschen ernst?

Das ist spannend. Es gibt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine gerade erschienene Studie mit dem Titel »E-Mobilität - Ist das die Lösung?«, für die Beschäftigte in der Autoindustrie befragt wurden. Die Untersuchung zeigt, dass sie genau wissen, dass die Autoindustrie in der Form nicht zukunftsfähig ist. Und dass sie bereit sind, zukunftsfähige Lösungen zu finden.

Ich habe ein Papier vom Institut solidarische Moderne gelesen, das besagt, ein Mitte-links-Bündnis wäre eine Option. Sehen Sie das auch?

Nein. Ich glaube, dass sich die Grünen lange nur auf eine Koalition mit CDU und CSU vorbereitet haben und jetzt auf einen SPD-Kanzler hoffen. Also eine rot-rot-grüne Regierung, die wirklich die Weichen in eine andere Wirtschaft stellt, ist mit einer Scholz-SPD und den Realo-Grünen wohl nicht zu haben. Mein Gefühl ist eher, wir bekommen jetzt Schwarz-Grün oder eine Ampel-Koalition, die einige sinnvolle Projekte umsetzen, aber insgesamt scheitern wird. Die Leute merken dann: Die Grünen werden eine sozial-ökologische Politik nur in einer linken Regierung machen. Das könnte in vier Jahren der Fall sein.

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