Die vielen machen sich sichtbar

Kritik einer Nebelkerzendebatte: Esther Dischereit stellt die richtigen Fragen zur Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft

  • Lesedauer: 9 Min.

Jüdisch. Solidarisch. Antirassistisch. Esther Dischereits Texte sind Einmischungen in politische Angelegenheiten. Sie zeigt auf die nationalistischen Konstruktionen und die staatliche Gewalt, sie ist persönlich involviert und widerspricht. Die Essays handeln von deutsch-jüdischen Zuständen, der Aktualität rassistischer Strukturen bei Behörden und anderen Institutionen, von Erfahrungen der neunziger Jahre zwischen Ost und West. Dischereits Texte sind Einmischungen in die politischen und moralischen Angelegenheiten der Gesellschaft und stellen sich der Frage, wie demokratische und solidarische Prozesse vorankommen können. Die Autorin äußert sich zu Flucht und Gewalt, zum Anschlag auf die Synagoge in Halle. Ihre Erfahrungen als Beobachterin des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags zur Untersuchung der Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) prägen den Werkstattbericht über ihre literarische Arbeit zu diesem Thema. Die Autorin bezieht Position zu Israel und Palästina. Der Essayband mit einem Vorwort von Aleida Assmann knüpft an die beiden Aufsatzbände »Übungen jüdisch zu sein« und »Mit Eichmann an der Börse« an.

Die Autorin

Esther Dischereit, 1952 in Hessen geboren, arbeitete in der Metallindustrie und als Setzerin, seit 1985 ist sie publizistisch als Schriftstellerin und Journalistin tätig.

Von 2012 bis 2017 Professorin für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst in Wien, 2019 DAAD-Chair in Contemporary Poetics an der New York University. Sie schreibt Prosa, Essays, Lyrik und Stücke für Radio und Theater. 2009 erhielt sie den Erich-Fried-Preis. Zuletzt erschienen als Buch und Hörwerk: Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena, 2014, Großgesichtiges Kind, 2014 und der Gedichtband Sometimes a Single Leaf, 2019.

Aus dem Vorwort

Die Essays sind Bestandsaufnahmen, sie enthalten Überlegungen und Beobachtungen von gesellschaftspolitischen Angelegenheiten und stellen die Frage, wie demokratische und solidarische Prozesse vorankommen können. Sie handeln von deutsch-jüdischen Zuständen, davon, wie eine Israeli Bakery in New York zur Quelle des Wunderns werden kann, von der Aktualität rassistischer Strukturen bei Behörden und anderen Institutionen in Deutschland, von Erfahrungen der neunziger Jahre in Ost und West, von Flucht und Gewalt, von Israel und Palästina und von dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019. Inzwischen sind weitere Opfer rassistisch motivierten Mordens zu beklagen. Neun Menschen wurden in der Stadt Hanau am 19. 2. 2020 getötet, bevor der mutmaßliche Täter seine Mutter und sich selbst erschoss. In den Trauerreden wird der Rechtsextremismus als »Gift«, werden die Giftmischer*innen im öffentlichen Raum, die nationalistische und ethnisch-grundierte Hetze betreiben, als solche bezeichnet. Das ist richtig und wichtig. Allerdings ist in diesen Reden eine Undeutlichkeit zu hören, wenn wir »alle« betroffen sind. Das ist eine Sprechweise, mit der die nicht unmittelbar Betroffenen versuchen, sich an die Seite der Betroffenen zu stellen. Insoweit sich alle als Bürger*innen verstehen, ist das auch richtig. Bloß sind die einen mehr Bürger*in als die anderen und das ist schon viel zu lange so.

Von welcher Position aus und an wen gerichtet sprechen die als Minderheiten Bezeichneten? Ceija Stojka, Angehörige der österreichischen Lovara-Rom*nja, Aktivistin, Schriftstellerin und Malerin hat stattdessen immer wieder von »Wenigerheiten« gesprochen. Die Adressaten der »Wenigerheiten« - ein anderer Definitionsvorschlag spricht von »Lang-« oder »Kurz«heimischen - müssen die Parlamente, müssen Judikative und Exekutive sein. Es sind die Institutionen, die Strukturen, die geändert werden müssen. Es ist vollkommen aussichtslos, den Geflüchteten Menschen, den Eingewanderten oder Schwarzen Menschen von seiner Geschichte oder Herkunft befreien zu wollen. Wozu auch? Ich möchte zum Beispiel nicht weniger jüdisch sein, als ich es bin.

Der Geflohene oder Eingewanderte Mensch, gleich welchen postmigrantischen Zustands oder der Arme Mensch wird mit diesen Attributen so behaftet, als handelte es sich um eine Charaktereigenschaft. In gewisser Hinsicht lastet auf diesen und anderen als Minderheit bezeichneten Gruppen die Zuschreibung des irgendwie Defizitären, wie dereinst eine Frau als im eigentlichen Sinn defizitärer Mann erschien. Wie das Problem zu beheben sei, wird möglicherweise dem Ressort Soziale Arbeit überantwortet. So, als wären diese alle behandlungsbedürftig. Und als müsste im Krisenfall diese Behandlung dann ausgeweitet werden.

Die Lage von Jüd*innen, Schwarzen Menschen, BPoC (Black and People of Color) und Eingewanderten Menschen, Geflüchteten Menschen, Rom*nja und Sinti*zze, queeren Personengruppen und anderen verlangt in einem existentiellen Sinn nach Bürger*innenrechten. Kommen sie in der Gesellschaft vor, als wären sie alle mehr oder weniger im Zustand des Geduldet-Seins oder sind sie in ihr »aufgehoben« und bilden den politischen Marktplatz, auf dem sie sichtbar und unübersehbar sind? Gründungen wie neue deutsche organisationen (ndo) und andere vermitteln bereits eine Idee davon, wie ein neues WIR in Deutschland aussehen könnte. »Wir sind von «hier». Hört auf zu fragen! Postmigrantische Bewegung für ein inklusives Deutschland« lautet die Selbstbeschreibung des Netzwerks von rund 100 Vereinen, Organisationen und Projekten.

Damit solche Aufbrüche nicht weiterhin bei einer Wiedereinreise an der Banalität von Zollkontrollen am Flughafen scheitern - hier sind offenbar die Weiterbildungen zur Ungesetzlichkeit von Racial Profiling folgenlos geblieben -, werden Rechtspositionen benötigt. Staatsbürgerrecht, Kommunalwahlrecht, auch für Ansässige aus Nicht-EU-Staaten und bei der Verfolgung von Straftaten die Aufnahme von Rassismus, Diskriminierung und Antisemitismus als prinzipiell nicht auszuschließende Motive, wenn Angehörige solcher Gruppen zu Schaden kommen.

Karamba Diaby, der Bundestagsabgeordnete der Sozialdemokratischen Partei aus Halle, hatte wie im Schulunterricht dem Parlament zu erklären, dass eine Million Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland leben und dass sie Teil einer Einwanderungsgeschichte sind, die vor mehr als 400 Jahren begann. Er beließ es dabei und sprach nicht weiter darüber, inwieweit diese Einwanderung im Gefolge von Sklaverei oder sklavenähnlichen Zuständen erfolgte, und zur Beteiligung am Profit durch den Verkauf von Menschen führte. Die Wahrnehmung der Erzählungen dieser Vielen steht aus. Es sind Erzählungen, die nicht in einem einzigen Narrativ zusammenlaufen. Das ist auch gut so, denn die kollektiven Erzählungen, wie sie in der Ära nach 1945 in Deutschland gepflegt wurden, kreierten einen Unschulds- und Opfer-Mythos und hatten mit Fakten nichts zu tun. Die Bundesrepublik Deutschland baute auf: Waschmaschine, Staubsauger und VW. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Mord blieben entweder gänzlich ungeahndet oder konnten verjähren. Die sogenannte »Gastarbeiter«-Generation brachte andere Erinnerungen mit, in denen das Leiden der Bevölkerung unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg aufgehoben ist, Bilder von Hinrichtungen, Massakern und Aushungern. Eine schreckliche Mitgift, mit der aus Jugoslawien, Polen, Griechenland, Italien stammende Menschen bei den ehemaligen Täter*innen und deren nächsten Generationen ökonomisch Abhängige wurden. So erzählt zum Beispiel die 1958 eingewanderte Angeliki Goutenidou in dem Film »Man lebt nicht nur vom Brot allein« (Die Unmündigen, Mannheim, 1992), wie ihre griechischen Kolleg*innen wohl gemerkt hätten, »dass sich die Situation hier geändert hatte, und so gab es nicht mehr diese große Angst, die vom Krieg ausgelöst worden war. ... Trotzdem sagten wir manchmal: Hoffentlich verarbeiten die uns nicht zu Seife!« Was Holocaust bedeutete, wussten sie und die Furcht vor NS-Tätern in Deutschland begleitete sie auch fünfzehn Jahre danach. Diese Situation des Ausgesetzt-Seins, in der sie sich befanden, ist im »migrantischen« Wissen aufbewahrt. Aleida Assmann spricht in ihrem Nachwort von diesem Einwirken der Vergangenheit auf die nachfolgenden Generationen und darüber, wie notwendig es für die Demokratie ist, jenen Blick anderer sichtbar zu machen.

Nicht zu vergleichen mit der Zahl der nach Kriegsende von der Bundesrepublik aufzunehmenden über 13 Millionen Vertriebenen, in der DDR waren es etwa vier Millionen, ist die Zahl der Geflüchteten Menschen, die in den neunziger Jahren ankamen, wie auch derjenigen, die nach 2015 Teil der Gesellschaft wurden. Für sie geht es jetzt um »Dazugehören«. Der Fetisch von Herkunft und nationaler Identität zerbröselt vor der Bedeutung eines Papiers, das das Dazugehören gestatten möge. Der Schriftsteller Saša Stanišić schreibt auf, wie für ihn die Rebellion Anpassung hieß. »Überall, wo man mich haben wollte und wo ich sein wollte. Kleinsten gemeinsamen Nenner finden: genügte.« Hier passt es nicht als Antwort auf die Zumutungen dessen, was zu deutschen und anverwandten »National-« oder »Leittugenden« zu sagen wäre, dem Geflüchteten fröhlich zuzurufen, Desintegrieren sei die Losung der Stunde. Es ist das Angebot der vollen Staatsbürgerrechte, um das es gehen muss; um Wählen und Wählbarkeit auf allen Ebenen, Mitsprache- und Teilhaberechte, um das Recht eine Familie zu haben.

Die Auffassung von der Existenz der Vielen verschafft sich ihren Ausdruck als Alternative zum Rechtspopulismus und besteht darauf, dass die Vielen in unübersehbarer Weise Viele und Diverse bleiben und gleichzeitig in eben diesem Zustand ein WIR, ein unteilbares Wir sein wollen. Für verschiedene Aktionen und Demonstrationen galt und gilt die Botschaft »unteilbar«. Unter diesem Schirm kann sich jeder und jede dennoch partikular orientieren, während gleichzeitig der universale Anspruch leitendes Motiv eines »Wir« bleibt.

Damit können die Minderheiten sich von einer Position verabschieden, in der es darum ginge, etwas zu erlangen, worüber eine Dominanzgesellschaft längst verfügt. Sie können sich stattdessen selbst kollektiv als bereits die-Vielen-seiend begreifen und verlangen, dass ihre Gegenwart in den Bereichen der Politik und Kultur zur Kenntnis genommen wird. So schrieb eine Gruppe unter dem offenen Kollektivnamen Dear All an das Kulturreferat in München und teilte mit, dass sie erwartet, bei den Veranstaltungen der Stadt repräsentiert zu sein. Dear All oder die Vielen werden sichtbar handlungsfähig.

Am Tag nach den Morden von Hanau war ich an jenen Plätzen, sah die Kioskverkäuferin noch eben in der Bar essen, und stellte mir vor, wie der Polizist an der Wohnungstür klingelte und den Kindern, dem Mann oder der Oma, die aufpasste, bis die Mutter von der Schicht kommen würde, die Nachricht überbringen würde. Wahrscheinlich spräche er von tödlichen Verletzungen, das Wort würde sich im Kopf wiederholen und der Verstand würde sich weigern, den Sinn des Wortes und des dazugesagten Adjektivs anzunehmen. Am nächsten Tag erhielt ich ein Mail, in dem eine von mir geschätzte jüdische Frau schreibt, ob Identität, die Selbst-Organisationen der People of Color, Schwarzer Deutscher sowie der Sinti und Roma - mit der sicherlich längsten Geschichte einer Bürgerrechtsbewegung nach 1945, dies alles sind notwendige Prozesse. Der rechten und rechtsextremen Sammlungsbewegung, die sich parlamentarisch und außerparlamentarisch platziert, kann jedoch nicht mit einer Fortsetzung oder Ausweitung der Debatten um Identitäten begegnet werden. Eine Bürgerrechtsbewegung, die das Recht aller zu sein einfordert, kann sich Ideologismen nicht leisten. Sie kann auch auf Akteur*innen unterschiedlicher politischer Orientierung nicht verzichten. Bei Akzeptanz aller Unterschiedlichkeit käme es eben jetzt darauf an, die Gemeinschaft der Vielen zu stärken.

Sie kann sich möglicherweise nur in einer gewollten und bewussten Zusammenführung gegenüber einer weißen gesellschaftlichen Dominanz Gehör verschaffen und Positionen der Teilhabe gewinnen. Nichts deutet darauf hin, dass die Bewegung rasche Erfolge haben kann. Nur: Verzichten kann man auf diesem Weg auf niemanden. Black Lives Matter, Turkish Lives Matter, Romn*ja Lives Matter, Jewish Lives Matter. Wir müssen weitere Gruppen anführen, denen wir zugehören oder als zugehörig erklärt werden und die Anspruch darauf haben, geschützt zu sein.

Im Grunde geht es doch darum, dass der Bürgersteig allen gehört. Allen, die auf ihm gehen wollen und keine Gruppe kann beschließen, ob jemand da geht oder nicht. Das ist voraussetzungslos und nicht verhandelbar.

Esther Dischereit
Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. Politische Texte
Mandelbaum Verlag
240 S., kt., 19,00 €

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