»Wer ist die neue Zeit?«

In Berlin hat Katja Kipping eine neue Gesprächsreihe gestartet. Ihr erster Gast war Nora Bossong

  • Matthias Reichelt
  • Lesedauer: 4 Min.

Katja Kipping, ehemalige Co-Vorsitzende der Linkspartei, hat in Berlin eine neue Gesprächsreihe gestartet. Unter dem Titel »Alles anders« will sie in den nächsten Monaten jeweils einen Gast zum Dialog im Roten Salon der Volksbühne empfangen. Als Motto formulierte sie: »Die Welt ist mehr denn je, was Angst macht und zugleich voll Hoffnung ist. Wir fragen uns: Wer ist die neue Zeit, und wohin führt sie uns?«

Den Auftakt machte am Mittwochabend die engagierte Lyrikerin, Essayistin und Schriftstellerin Nora Bossong. Bevor beide auf der Bühne Platz nahmen, führte Kipping ein kurzes Gespräch mit der Pflegerin Stella, die zur Unterstützung des seit einem Monat dauernden Streiks der Berliner Pflegekräfte aufrief, die nicht nur für bessere Bezahlung, sondern auch für mehr Stellen und bessere Arbeitsbedingungen kämpfen.

Für Kipping, die ihre Magisterarbeit in Slawistik über das Thema »Interdependenzen zwischen Politik und Literatur« verfasst hat, ist Nora Bossong eine richtige Wahl. Sie hat mit »36,9 Grad« (Hanser 2015) das Leben Antonio Gramscis verarbeitet und mit »Schutzzone« (Suhrkamp 2019) einen Roman über die Arbeit der UN und den Völkermord in Ruanda verfasst. Derzeit arbeitet Bossong an einem neuen Buch, für das sie Politiker vor und hinter der Bühne beobachtete und auch mit Parteiaktivistinnen unterwegs war.

Die allgemeine Übereinstimmung zwischen diesen beiden, sich sympathisch präsentierenden Frauen war deutlich spürbar. Die vielen Themen, die sie an diesem Abend besprachen, führten zu keinem Disput. Es war eine Veranstaltung zum Wohlfühlen, bei der Einigkeit bestand über die Notwendigkeit zum sofortigen Handeln gegen den Klimawandel, ohne dabei die soziale Frage aus den Augen zu verlieren. Was das bedeutet, wie dies realisiert werden könnte, wurde allerdings nicht weiter thematisiert.

Nachdem Bossong »mit etwas Positivem« beginnen wollte und den zurückliegenden fairen Wahlkampf lobte, gab sie später ihrer Hoffnung Ausdruck, dass alle demokratischen Parteien die Dringlichkeit der Klimafrage erkennen und an einer Lösung arbeiten mögen. Das klang durchaus etwas nach Kirche, wo Sehnen und Hoffen ja Programm ist. Der Begriff Kapitalismus, zu dem bekanntlich das Programm der Grünen keine Alternative bietet, fiel nicht.

Den Grünen schwebt ja eine Art »Green Deal« vor, der mit dem Weiter, Schneller, Höher der Industriegesellschaft nicht bricht, sondern dieses etwas anders akzentuiert fortschreibt. Wie das Klimaziel mit der »Sicherung des Industriestandortes Deutschland«, Produktionssteigerung und Ausweitung der Märkte überhaupt vereinbart werden kann, war nicht Gegenstand des Gesprächs am Mittwochabend.

Wäre nicht darüber zu sprechen, ob zur Klimarettung eine harte Politik des Verzichts eingeschlagen werden soll, was nur mit einer Umverteilung von oben nach unten zu erreichen ist? Zumal nicht davon auszugehen ist, dass das Kapital freiwillig auf Macht verzichten wird. Bossong gab sich als Anhängerin von Reformen statt von Revolutionen zu erkennen. Hätte Kipping hier nachgehakt, wären zwischen den beiden Frauen vermutlich Differenzen zutage getreten. Stattdessen wechselten sie zu anderen Themenfeldern.

Und auch da deutete sich ein weiterer Konflikt an, als es um die Frage von militärischen Interventionen ging. Bossong zeigte sich begeistert von der Menschheitsutopie, die sich nach dem deutschen Vernichtungskrieg und Holocaust in der Gründungscharta der Vereinten Nationen manifestierte. Dennoch sieht sie die Beschränktheit der Politik der UN. Deshalb neigt sie – zähneknirschend – zu der Position, notfalls Bundeswehr und das Militär weiterer Nato-Staaten in anderen Länden intervenieren zu lassen.

Kipping setzte ihre pazifistische Haltung dagegen, gestand aber ein, im Fall des Völkermords in Ruanda an Grenzen geraten zu sein. Welche Konsequenzen daraus folgen, angesichts vieler ganz anders motivierter Regime-Change-Kriege, vor allem durch die USA, blieb am Ende offen. Abschließend beschworen beide einen neuen politischen Optimismus. Sie möchten keine Energie mehr für Pessimismus verschwenden, um stattdessen eine »Erzählung des Möglichen« zu formulieren.

Am 8. November steht die Schriftstellerin Ursula Krechel auf dem Programm und im Dezember Stephan Lessenich, Soziologe und neuer Direktor des legendären Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und Mitgründer der Partei »mut«.

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