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Die Tage der Industrie waren gezählt

Proletarische Lebenshölle im Thatcherismus: »Shuggie Bain« ist der monströs herzzerreißende Debütroman von Douglas Stuart

  • Ingo Petz
  • Lesedauer: 5 Min.

Shuggies Mutter Agnes hat sich wieder einmal die Kante gegeben und lässt sich auf das Bett fallen. Man weiß nicht, ob Agnes sich und ihren Sohn tatsächlich umbringen will, als sie ihre Zigarette an den Vorhang hält, der augenblicklich in Flammen aufgeht, oder ob es eine dieser unbedachten Handlungen ist, die so beiläufig passieren wie all die Gewalt, die Erniedrigung und das Elend in »Shuggie Bain«, diesem monströs herzzerreißenden Debüt-Roman des ehemaligen Modedesigners Douglas Stuart.

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Douglas Stuart: Shuggie Bain.
A. d. Engl. v. Sophie Zeitz. Hanser, 496 S., geb., 26 €.

Da liegen die beiden dann: Shuggie, dieser Glasgower Junge, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, und seine alkoholsüchtige Mutter, in Liebe und Selbsthass unzertrennlich miteinander verkettet hat. Agnes hält Shuggie mit einem Arm fest, beruhigt ihn, als das Feuer sich ausbreitet. »In ihren Augen lag eine tödliche Ruhe. Das Zimmer färbte sich golden. Das Feuer kletterte die synthetischen Vorhänge hinauf und schlug an die Decke. Dunkler Rauch schoss in die Höhe, als wollte er vor den gierigen Flammen fliehen. Shuggie hätte Angst gehabt, aber seine Mutter war ganz ruhig, und das Zimmer war noch nie so schön gewesen, in dem Licht, das tanzende Schatten an die Wände warf und die Paisley-Tapete lebendig werden ließ wie tausend qualmende Fische.«

Das ist eine der Schlüsselszenen in dem Roman »Shuggie Bain«, der 2020 mit dem Man Booker Preis ausgezeichnet wurde. Das Leben abfackeln, das derart wild und unbändig in den Protagonisten lodert, mit teuflischer und toxischer Glut. Und doch ist da immer wieder diese Zärtlichkeit in den schrecklich intensiven Momenten, die wohl nur diejenigen nachempfinden können, die durch eine ähnliche Lebenshölle gegangen sind und die wissen, dass so viel geballtes Leben, auch wenn es einem tagtäglich die Fresse poliert, Schönheit schaffen kann.

»Die Schönheit ist nur ein Versprechen von Glück«, schrieb der Schriftsteller Henri Stendhal. Schönheit als Verheißung eines besseren Lebens. Nach dem sehnt sich dieser Junge Shuggie in den 1980ern. Er träumt davon, auf ein College für Hairstylisten gehen zu können, wird aber immer wieder von der Last seines bisherigen Lebens eingeholt.

Der Roman beginnt damit, dass Shuggie, zur Halbwaise geworden, sich als 16-Jähriger mit einem miesen Job in einem Supermarkt das Überleben sichern muss. Überleben im Thatcherismus, jener Epoche, in der Margaret Thatcher mit ihrer sozial eiskalten Wirtschaftspolitik den Bergwerken, den Hafen- oder Dockanlagen, überhaupt der Working Class Großbritanniens neoliberal zu Leibe rückte. »Die Tage der Industrie waren gezählt, und die Gerippe der Clyde-Werft und der Springburn-Eisenbahnwerke lagen in der Stadt herum wie abgenagte Dinosaurierknochen. Ganze Hochhäuser voller junger Kerle, denen man das Handwerk ihrer Väter versprochen hatte und die jetzt keine Zukunft mehr hatten. Kerle, die ihre Männlichkeit verloren«, schreibt Stuart.

In dieser Ruine der verfallenen Männlichkeit wird jemand wie Shuggie, der offenbar queer ist und damit herkömmliche Grenzen infrage stellt, von den anderen als eine Gefahr wahrgenommen. Von den Jungs in der prekären Bergarbeitersiedlung Pithead, wo er mit seiner Mutter lebt, wird er gedemütigt, gemobbt und beschimpft. Stuart erzählt, wie sich brutaler sozialer Niedergang in Lebensläufen niederschlägt, wie er sich in die Psyche bohrt, wie er das Menschliche wegätzt und Charakter deformiert. Die Gemeinheiten und Brutalitäten, die Stuart mit dieser explosiven Eindringlichkeit beschreibt und auslotet, sind kaum zum Aushalten.

In dieser Hinsicht ist »Shuggie Bain« nicht nur, aber eben auch ein sehr politischer Roman, der dem Leser die Folgen einer hyperkapitalistischen Wirtschaftspolitik vor Augen führt. Mit den Altlasten und Folgen dieser Politik, vor allem mit dem Vertrauenslust in die traditionellen Parteien und in demokratische Institutionen, haben viele Länder der westlichen Welt heute zu kämpfen.

Noch viel mehr aber ist dies ein sehr persönlicher Roman mit stark autobiografischen Zügen, der die Dämonen der Alkoholsucht erforscht. Douglas Stuart, selbst queer, wuchs in Glasgow in ebenjener Zeit des Verfalls auf, mit einer alkoholkranken Mutter, die starb, als er 16 Jahre war, worauf er sich mit Nebenjobs durchschlagen musste, bevor er in New York Karriere bei Ralph Lauren oder Calvin Klein machte.

In einem Interview mit der »Zeit« sagte Stuart: »Selbst in meinen frühesten Erinnerungen steht meine Mutter mit Bier oder Wodka vor mir. Alkohol gab es immer und überall - ich meine, wir reden vom Schottland der Achtzigerjahre, von den Sozialbausiedlungen der Zechenarbeiter, das war keine Seltenheit. Mit dem Buch wollte ich herausfinden, ab welchem Zeitpunkt das Trinken, um eine gute Zeit zu haben, zum Problem wurde. Ich habe viel mit Kindern anderer Alkoholiker gesprochen, mit Verwandten in Glasgow, aber bin zu keinem Ergebnis gekommen. Es gab kein traumatisches Ereignis, das ihre Krankheit auslöste. Vielmehr handelte es sich um eine sich langsam zersetzende Hoffnung, eine immer dünner werdende Luft.«

In den vergangenen Jahren sind international zahlreiche Bücher erschienen, die sich literarisch mit dem Aufwachsen im derangierten Proletariat auseinandersetzen, beispielsweise »Ein Mann seiner Klasse« von Christian Baron oder »Im Herzen der Gewalt« von Édouard Louis. Während in vielen dieser Romane die soziale Kälte durch eine lakonische und harte Sprache beschrieben wird, geht Douglas einen anderen Weg: Seine Sprache ist im Vergleich nahezu barock und ausladend, er greift zu vielen Bildern, die nicht selten ins Kitschige abdriften. Hier wird eine Sprachgewalt zelebriert (für den kaum zu übersetzenden Glasgower Slang hat die Übersetzerin eine eigene Form gefunden) als Auflehnung gegen das scheinbar unvermeidliche Schicksal. Als Hoffnung darauf, dass man am Ende in das bessere Leben - auf vertrackten und manchmal banalen Bahnen - doch einen Weg findet.

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