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Kästner gegen Kohle

Das Theater der Jungen Welt in Leipzig wird 75 Jahre alt und beschenkt sich und das Publikum mit »Emil und die Detektive«

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 5 Min.

Um die Jugend aus ihrem durch Drill und Zerstörung herbeigeführten Zustand der »charakterlich bedingte[n] Denkhemmung« zu befreien, wurde 1946 das Theater der Jungen Welt in Leipzig gegründet. »Neue Wege sollte man erschließen und jedes Mittel ergreifen, von dem man erhofft, unsere Jugend aus dieser geistigen Öde herauszureißen, in die sie die hinter uns liegende Episode geführt hat.«

Mit Nachdruck adressiert die frühere Verwaltungsdirektorin des Theaters, Erna Ueberück, die Notwendigkeit der neu entstandenen antifaschistischen Kulturanstalt, die »das traditionelle Märchentheater als Requisitentheater alten, überlebten Stils« entschieden ablehnte. Den jungen Menschen musste eine ihnen gerecht werdende Theaterpraxis geboten werden. Gesprochene Szene neben Gesang und Tanz, spielende Requisiten im »bunt wuchernden Kulissenbild«, Opernhaftes und Pantomime sollten sich auf der Bühne abwechseln, heißt es in der »Leipziger Zeitung« vom 21. August 1946 weiter. Das erste professionelle Kinder- und Jugendtheater im deutschsprachigen Raum folgt dem sowjetischen Vorbild, das die Pädagogin und Theatermacherin Natalia Saz entwickelte.

Im Geiste von Frieden, Völkerverständigung und Sozialismus feierte das Leipziger Theater seine Eröffnung mit der Inszenierung von »Emil und die Detektive« nach Erich Kästner. Für ein Stück Kohle ließ man die Kinder in den lang gezogenen Publikumsraum. So konnte der Weiße Saal in der Kongresshalle am Zoo geheizt werden. Bis 1989 blieb er das beengte Quartier des Theaters der Jungen Welt. Dann zwang ein Brand die Bühnenleute zur Suche nach einer neuen Herberge, die sie 2003 am Lindenauer Markt nach einigen Zwischenstationen fanden.

Vergangenen Sonntag, genau 75 Jahre, nachdem sich der Vorhang das erste Mal für den Kästner-Klassiker hob, stand Emil wieder auf der Bühne. Die Jubiläumsinszenierung von Regisseurin Julia Brettschneider modernisiert den Stoff. Statt einer draufgängerischen Jungenbande stehen die mutige Pony und ihre Beziehung zum unsicheren Kind aus Neustadt im Zentrum. Während die Zuschauer*innen zu ihren Plätzen geführt werden, spielt Alida Bohnen die Einlassmusik auf ihrem Synthesizer. Ein älterer Herr kommt nicht umhin, der Schauspielerin mitzuteilen, Schubert lasse sich auf der Klaviatur nicht spielen. Das ist an diesem Abend auch nicht nötig. Im Zusammenklang mit Benjamin Vinnens Ukulelenkünsten entstehen kleine, poppige Erzähllieder, die die Gefühlswelt der Protagonist*innen illustrieren.

Vinnen und Bohnen bleiben zu zweit auf der Bühne und verwandeln sich für die Filmeinspieler auf der hinteren Leinwand in die Nebencharaktere. Vor allem aber erzählen und spielen sie als Emil und Pony die Auflösung des Diebstahls nach, der sich auf einer Zugfahrt nach Berlin ereignete. 250 Euro, abgespart vom geringen Friseurinnengehalt der Mutter, stecken in der Jackentasche des Kleinstadtjungen. Die Verantwortung, die er mit der Summe trägt, lastet schwer auf ihm. Trotzdem schläft er ein, während er in einem Abteil mit dem dubiosen Grundeis sitzt. Mit seinem Erwachen bemerkt er: Das Geld ist weg. Und der zwielichtige Typ mit kariertem Hut ebenso.

Dem Dieb hinterher stolpert Emil durch Berlin, bis sich Pony in sein kleines Abenteuer drängt. Im Roman festgelegt auf den ungefährlichen Telefondienst, wird sie in der Inszenierung treibende Kraft. Die mutige, manchmal übermütige Berlinerin auf dem Hoverboard begegnet jeder brenzligen Situation mit einem neuen Einfall, ohne männlich konnotierte Verhaltensmuster zu wiederholen. Sensibel geht sie auf die Sorgen Emils ein und teilt eigene Ängste mit. In diesen von den Schauspieler*innen feinfühlig gespielten Gesprächen vergleichen die beiden ihr Milieu. »Wenn man zu Hause nicht über Geld redet, hat man genug davon«, überlegt Emil, nachdem Pony bemerkt, sie wisse gar nicht, wie die finanzielle Situation der Eltern aussieht.

Bei Pony ist sowieso alles anders: Zu Hause hat sie viele Freiheiten, die sie beherzt nutzt. Außerdem besitzt sie mit gerade zwölf Jahren ein Handy - im Gegensatz zu Emil. Den führt sie vorsichtig an das Gerät heran. Seine Lernerfolge werden über zwei weitere Leinwände für das Publikum sichtbar, auf denen die Chat-Gruppe »Parole Emil« erscheint. Obwohl Pony den Dieb bereits überführt hat, benötigen die Freund*innen nun doch Unterstützung von einer Kinderbande. Das Publikum darf mithelfen, den projizierten Herrn Grundeis schubsen, bis er in sich zusammenschrumpft. Jetzt können ihn die Kinder in die Tasche stecken.

»Was lernen wir aus diesem Abenteuer?«, fragen sich Pony und Emil schließlich. Von der Inszenierung bleibt der leichte Umgang mit Geschlechteridentität - ein Thema, das in der zweiten Spielzeit der neuen Intendantin, Winnie Karnofka, immer wieder auf die Bühne gebracht wird. »Wer bin ich?« ist die Frage, die auch die nächsten Monate am Lindenauer Markt bestimmen wird. Die Suche nach, das Finden und Verlieren von Identität beschreibt den Pfad, der in den Inszenierungen und Jugendclubs erforscht wird.

In der »Jungen Wildnis«, der theaterpädagogischen Sparte des Theaters der Jungen Welt, erproben Kinder und Erwachsene Heterogenität in mehrsprachigen und inklusiven Spielräumen. Hier entsteht ein Theater der Zukunft, das neue Erzählweisen umsetzt, ohne dass das jeweils so benannt sein müsste. Nach einer langen, virtuellen Durststrecke, während der viele Theaterspieler*innen aus den Clubs verschwunden sind, brummt das Haus am Jubiläumswochenende voller Vorfreude auf das Kommende.

Nächste Vorstellungen: 10., 20. und 21.11.

www.theaterderjungenweltleipzig.de

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