Gesellschaft der Nichtschwimmer

Linke Melancholie: Frank Castorf bringt Erich Kästners Roman »Fabian« auf die Bühne des Berliner Ensembles

Viel ist bereits geschrieben worden darüber, dass die Theaterkunst sich - allerhand Bemühungen zum Trotz - nicht einfach so dauerhaft ins Internet abschieben lässt. Überdeutlich wird das an dem Monumentalregisseur Frank Castorf, der nach langer Pause am vergangenen Sonnabend mit einer Adaption von Erich Kästners Roman »Fabian« wieder eine Inszenierung zur Premiere bringen durfte. Castorfs Arbeit ist ein körperbetontes Überwältigungstheater, das sich kontrapunktisch zu klinischer Kunst in Zeiten der Pandemiebekämpfung verhält. Hier wird geschrien und gespuckt, Nacktheit zelebriert sowie in großen Gesten Nähe gewagt, und das Publikum wird mit einer Bilder- und Textwucht konfrontiert.

Ein Teil von Castorfs Ruhm als Regisseur liegt auch in den untersagten und abgesetzten, in den nicht gespielten Aufführungen begründet. Bis heute kursieren Legenden von den verbotenen Arbeiten in der ostdeutschen Provinz der 1980er Jahre - Verhaftungen inklusive. Als seine Münchner Inszenierung von Brechts »Baal« 2015 nur in zwei Vorstellungen gezeigt werden durfte und dann Opfer einer einstweiligen Verfügung der Brecht-Erben wurde, wurde noch einmal einer Arbeit des Meisters die belebende Wirkung des Verbots zuteil. Castorf zeigte sich entsprechend heiter.

»Fabian« sollte bereits Anfang letzten Jahres Premiere feiern, eine Verschiebung folgte der nächsten. Keine politischen oder rechtlichen Gründe lagen vor, Schuld war die Pandemie. Und mit jeder neuen Verschiebung in ungewisse Zukunft bekam diese ungesehene Bühnenarbeit etwas Mythisches und ließ die Erwartungen wachsen.

Erich Kästner auf die Bühne des Theaters zu heben, ist ein schöner Gedanke. Seine Texte gehören laut gesprochen. Dem Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der im Programmheft zitiert wird, ist der »Fabian« »eine Geschichte in Epigrammen und Aphorismen«. Dass Castorf auch Gefallen an inhaltlichen Fährten des Romans finden konnte, leuchtet schnell ein. Kästners Werk, 1931 erstveröffentlicht, ist ein großes Berlinbuch, ein Stimmungsbild der Stadt vor der faschistischen Machtübernahme. Utopisches Denken und der Verlust desselben, der Rausch und die Armut, Glück und Suizid, politische Gefechte und persönliche Kämpfe sind Themen, die Kästner darin aufruft.

Hinzu kommt die erstmalige Veröffentlichung der Urfassung des Romans vor wenigen Jahren, die nicht mehr unter dem Untertitel »Die Geschichte eines Moralisten« firmiert, sondern »Fabian oder Der Gang vor die Hunde« heißt und einiges mehr an erotischer Sprengkraft zu bieten hat, der Zensur wegen in den 1930er Jahren aber nur eingehegt erscheinen konnte. Auch das dürfte einen gewissen Reiz für Castorf ausgemacht haben.

Seiner assoziativen Arbeitsweise entsprechend hat der Regisseur den Text um Dr. Jakob Fabian, der zwischen propagandistischer Arbeit und exzessivem Leben, zynischem Weltbild und moralischer Verantwortung seine Tage fristet, stark zerpflückt, angereichert und neu zusammengesetzt. Was das Publikum dann aber erwartet, überrascht doch. Wo bleibt das große politisch-gesellschaftliche Panorama, das in Kästners Roman auch angelegt ist? Galt nicht Castorfs Interesse immer den Erniedrigten und Beleidigten? An diesem Premierenabend im Berliner Ensemble fehlen die inszenatorischen Brüche, die lautstarke Anklage. Die Konflikte bleiben zu verworren - oder werden deutlich verschoben.

Mit viereinhalb Stunden Spielzeit und einer Pause kommt der Abend für Castorfsche Verhältnisse schon fast konzentriert daher. In der Eröffnungsszene tänzeln Fabian (Marc Hosemann) und Labude (Andreas Döhler) in Stummfilmmanier über die Bühne. Die Weimarer Republik ist in Reminiszenzen dauerpräsent. Das genialische Bühnenbild von Aleksandar Denić, auf der Drehbühne platziert, gibt der Vorstellung ausreichend Abwechslung. Die eine Front des Gebildes ist unschwer als Studio der Ufa zu erkennen - Arbeitgeber des Autors Kästner während der Nazizeit, dessen Bücher 1933 verbrannt wurden -, die andere Front zeigt die Kulisse einer Bar nebst Leinwand, die unter anderem für Projektionen der Liveaufnahmen aus dem Inneren des begehbaren Bühnenbildes fungiert. Dreht die Bühne nochmals um 90 Grad, wird eine zweidimensionale, deckenhohe Nackttänzerin sichtbar. Von Sinnlichkeit kann aber kaum die Rede sein, bewegt die Abbildung doch im Gleichtakt ihren Körper - und führt dem Zuschauer so die stupide Mechanik menschlicher Leidenschaft vor Augen.

Viel Raum bekommt der Selbstmord von Labude, dem Freund des Titelhelden: Nachdem ein wissenschaftlicher Mitarbeiter im Spaß Labudes Habilitationsschrift für ungenügend erklärt hatte, obwohl offenkundig das Gegenteil der Fall ist, setzt der seinem Leben ein Ende. Was heißt das: Leben, Überleben, stellt sich unaufhörlich von der Bühne die Frage. Leben, das ist doch eine Chimäre, wenn Gelingen und Scheitern, das Ende des Lebens von Missverständnissen abhängt.

Fabians sexuelle Konflikte, die unbesiegbare Eifersucht sind ein weiteres großes Thema dieses Abends. Fabians Geliebte, Cornelia (Margarita Breitkreiz), gibt sich für ihre Filmkarriere verschiedenen Männern hin. Ein Umstand, der Fabian schwer erträglich vorkommt und den Castorf zum Anlass nimmt, eine höchst private Ebene in das Theater Einzug halten zu lassen. Seine »Fabian«-Inszenierung bedeutet auch einen Blick in das eigene Schlafzimmer. Zumindest reicher um das Gefühl der Scham sitzt man als Zuschauer da und lauscht peinlich berührt den Ausführungen. Ein Übermaß an Eitelkeit.

Über Erich Kästners lyrisches Werk hat Walter Benjamin den aufschlussreichen Text »Linke Melancholie« geschrieben. Darin greift der Kritiker die Schwermut unter den Schriftstellern an, stellt die Fixiertheit auf das eigene Gefühlsleben konsequent in Frage. Auch Castorf verweist im Programmheft auf Benjamin. Was sind die Eifersüchteleien, das persönliche Glück, der Exzess und der Absturz des Fabian angesichts des schon damals zielstrebig und diszipliniert aufmarschierenden Faschismus? Umso zweifelhafter scheint Frank Castorfs Strategie, anhand eigener Nabelschau diese Marginalien im Angesicht der Weltkatastrophe zu exemplifizieren.

Wenn die Bühne zu einer Drehung ansetzt, eine zweite Leinwand heruntergelassen wird und dem Publikum darauf gezeigt wird, wie die Schauspieler, für den Zuschauer im Verborgenen stehend, in ihren Rollen auf die erste Leinwand neben der Bar blicken, wird plötzlich eine andere Geschichte erlebbar. Die Darsteller verfolgen die berühmte Selbstmordszene aus Brechts Film »Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?«, der dieselbe Zeit wie Kästners Roman abbildet. Nicht das wilde, rauschhafte Berlin der Weimarer Jahre, sondern das Elend der Großstadt mit seinen unzähligen Arbeitslosen wird jetzt sichtbar und der Schauspieler - im wahren Sinne des Wortes - zum Repräsentanten seiner Figur, einer Gesellschaft, einer Zeit. Damit hält eine dramatische Qualität Einzug in das Bühnengeschehen, die über Stunden leider nur erahnt werden kann.

Kästners Text fügt Castorf in der zweiten Hälfte des Abend mit Adelbert von Chamissos »Peter Schlemihls wundersame Geschichte« zusammen, jenem Märchen von einem verkauften Schatten, das Auskunft gibt über den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft und Selbstverrat. Aber auch das hilft wenig.

Das Finale dieses Theaterabends gewinnt plötzlich an Schärfe, an fantasievoller Überlagerung von Bildern und politischem Charakter, was aber nicht die vorher abzusitzenden Stunden vergilt. Noch einmal wird nach all den raumgreifenden privaten Verstricktheiten, die an diesem Abend offenbart werden, zum Kampf gerufen. »Roter Wedding«, nach dem blutigen Mai 1929 verfasst und zum Klassiker des Arbeiterliedgutes avanciert, schallt über die Bühne: »Drohend stehen die Faschisten drüben am Horizont.« Danach kann man auf der Leinwand eine satanisch anmutende Szene verfolgen, bei der eine Badewanne mit Kunstblut gefüllt wird und der grausame Tod durch Ertrinken zeichenhaft deutlich wird.

Der Nichtschwimmer Fabian stirbt am Ende des Romans bei dem Versuch, ein Kind aus dem Wasser zu ziehen. Das Kind hingegen kann sich retten. Im Wasser zu sterben, heißt ringend, kämpfend zu sterben. Welch ein schreckliches Bild hat Kästner gefunden, für eine weltpolitische Situation, die er 1931 kaum vorausgeahnt haben kann. Welche Ohnmacht einer Gesellschaft der Nichtschwimmer war mit der Brutalität des Faschismus kurze Zeit später konfrontiert? Und wieder die Frage: Ist das Leben nicht ein Witz angesichts des Todes? An dieser Stelle, mit diesen durch ein einfaches Bild aufgerufenen Fragen könnte eine Inszenierung beginnen. Was tatsächlich geboten wurde, war zu wenig.

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